West Point, USA. Tiefer Winter im Jahr 1830. Obwohl die Militärakademie von West Point nicht so weit entfernt ist von New York, befinden wir uns in einer verschneiten Welt weit abseits von jeglicher Urbanität. Die ungemütliche Kälte ist zum Greifen, als der Detektiv Augustus Landor (Christian Bale) von den Leitern der Militärakademie angefragt wird, ob er einen peinlichen Todesfall eines Kadetten aufklären könne.
Was nach Selbstmord durch Erhängen aussieht, hat sich schnell als etwas komplexer herausgestellt. Fry, das Opfer, wurde nach dem Tod geschändet, das Herz wurde ihm herausgeschnitten. Und wie Landor bald feststellt, handelte es sich um einen Mord. Die Tatsache, dass Landor in der einen Hand des Toten einen Teil eines Zettelchens entdeckt, bringt ihn – über einen Barbesuch bei seiner Geliebten Patsy (Charlotte Gainsbourg) – auf die Idee, den jungen Kadetten Edgar Allen Poe (Harry Melling), der den Poeten ja bereits im Namen trägt und genauso herumspintisiert, zu seinem Dr. Watson zu machen. Im Gegensatz zum cleveren, rationalen Landor entpuppt sich Poe als eine ausschweifende Plaudertasche mit versponnenen Ideen, der stets mit erhobenem Zeigefinger spricht, um ernst genommen zu werden, und der nicht zuletzt viele seiner Eingebungen aus seinen Träumen bezieht. So sind sie also, diese Poeten – doch Landor scheint genau das zu benötigen, um mit der Aufklärung des Falls voranzukommen.
Je mehr Morde geschehen, desto komplexer wird die Aufklärungsarbeit des Duos tatsächlich. Der Film baut einen schönen Berg an Indizien auf, bis er ihn endlich zu entwirren beginnt. Die Nachforschungen führen die beiden zu einem Experten in Sachen Hexenverbrennung (Robert Duvall), einer okkulten satanischen Sekte, aber auch in die Familie des Militärarztes (das Ehepaar wunderbar gespielt von Toby Jones und Gillian Anderson).
Der Film bereitet also durchaus Vergnügen, auch wenn er zuweilen etwas formalistisch und farblos daherkommt. Die Aufklärung des Falles bietet aber immer wieder Überraschungen, manchmal etwas lächerlich, aber meistens interessant und spannend. Basierend auf dem Buch „The Pale Blue Eye“ von Louis Bayard (der in seinen Romanen gern historische Figuren bzw. fiktional-historische Figuren aufgreift) entfaltet der Film zwar Dunkelheit und Beklemmung, aber trotz überzeugender Settings nicht die visuelle Kraft, um auch ein wirklich aufregender historischer Kriminalfilm zu sein. Christian Bale als alkoholsüchtiger Detektiv Augustus Landor, der unter dem Verschwinden seiner Tochter leidet, ist schlicht großartig, wie meistens, während sein Counterpart Harry Melling einen eher skurrilen Poe gibt – was dem Noch-nicht-Novellisten aber auch die Facette Enthusiasmus verleiht, die ihn später zum großen Poeten Poe machen wird.
Anspielungen auf Poes Werk sind für Fans durchaus präsent, nicht nur in Gestalt eines prominent wegfliegenden Raben. Die literarische Figur Detektiv Landor ist Protagonist in einer Kurzgeschichte Poes von 1850, „Landor’s Cottage“, und an einer Stelle im Film kündigt unser Film-Poe auch an, dass er dereinst etwas zu Landor schreiben werde. Dass Poe-Themen wie Tod und Krankheit auch den Film (bzw. Bayards Buch) dominieren, mag nicht erstaunen. Außerdem trat der reale Edgar Allan Poe tatsächlich 1830 in die Militärakademie in West Point ein. Und schließlich, wie heißt es in Poes “Tell-Tale Heart”: “One of his eyes resembled that of a vulture – a pale blue eye, with a film over it.”
Bleiben wir also noch beim „Film over it“ (eine Buchverfilmung ist ja tatsächlich auch eine Art Belag oder Haut über dem Buch, dem Auge des Schriftstellers). Der Film zeigt auch die inneren Zerrissenheiten zwischen Wissenschaft (Schulmedizin) und Okkultismus (heute wären das wohl Verschwörungstheorien) in den USA, die im Innern von Gemeinschaften zerstörerische Kräfte entfalten. Gleichzeitig gibt es auch Ungereimtheiten zwischen Rationalismus und poetischem Denken. Das macht den Film durchaus zu einem reflektierenden Kind seiner Zeit (2022) und seines Ortes (USA / der „Westen“).
The Pale Blue Eye
USA 2022
Regie & Drehbuch: Scott Cooper
Kamera: Masanobu Takayanagi
Musik: Howard Shore
Darsteller: Christian Bale, Harry Melling, Gillian Anderson, Lucy Boynton, Charlotte Gainsbourg, Toby Jones, Simon McBurney, Robert Duvall u.a.
Laufzeit: 128 Min.