OSS 117 ist in Frankreich mehr noch eine Eurospy-Agentenlegende als die Sixties-Spione KOMMISSAR X und JERRY COTTON in Deutschland – was sich in den drei erfolgreichen, französischen Parodien mit Jean Dujardin aus den Jahren 2006, 2009 und 2021 zeigte. In den sechziger Jahren begann eine Serie von 7 Filmen, in deren Verlauf der Darsteller des Spions OSS 117 immer wieder ein anderer war. Seiner Popularität tat das allerdings keinen Abbruch. Nicht zur Serie wird üblicherweise der erste OSS 117-Film MÄNNER, FRAUEN UND GEFAHREN (OSS 117 N’EST PAS MORT) aus dem Jahr 1956 gezählt (genauso wie der Bondfilm CASINO ROYALE von 1954 nicht zur Bond-Serie gezählt wird), weshalb wir hier mit dem zweiten ersten beginnen wollen.
OSS 117 GREIFT EIN (1963) weist zwar bereits viele Klischees auf, die das an James Bond angelehnte Eurospy-Genre ausmachen, ist aber gleichzeitig ein Übergangsfilm aus der Welt der 1950er Jahre. Der Film ist eher ein Krimi mit Spionen als ein Bond-Rip-off voller Konsum-, Technik- und anderer Geilheit. Vieles unterscheidet ihn von einem Bondigen Eurospy-Thriller: Schwarzweiß, jazzige Musik (die klingt wie Serge Gainsbourgs frühe jazzigen Stücke), Spiel mit Licht und Schatten, keine technischen Gimmicks (außer ein paar seltsamer Apparaturen der Sowjets in einer Grotte), und keine exzessiven Locationwechsel in exotische Länder (einmal gibt es einen Ausflug von der Insel Korsika nach Nizza).
Handlungsort ist Bonifacio, die wunderbare alte, südlichste Stadt auf der französischen Insel Korsika, die auch mit Schwarzweiß wunderschön eingefangen wurde. Als der amerikanische Tourist William Roos beim Tauchen stirbt, untersucht der US-Agent OSS 117, Hubert Bonisseur de la Bath (Kerwin Mathews), den Mord. Denn bei Roos handelte es sich um einen anderen US-Agenten, der tatsächlich unter Wasser umgebracht wurde. Ganz der Detektiv, überprüft OSS 117 den Bootsbesitzer Nicolas Renotte (Henri-Jacques Huet) und dessen Geliebte Brigitta (Nadia Sanders), ein unterkühltes, schwedisches Model, und entdeckt dabei einige Ungereimtheiten. Als Renotte aus Angst vor Unbekannt per Schiff die Flucht nach Nizza antritt, folgt OSS 117 und bandelt dort in einem Café mit Brigitta an. Auf ihre erstaunte Feststellung „Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen“ antwortet er: „Die freie Welt ist so klein“. Damit zeigt er bereits seine Vermutung darüber, dass er es mit einer Spionin der unfreien Welt zu tun hat. Gleichzeitig ist seine verblüffende Antwort aber auch Hinweis darauf, wie der Westen sich 1963 offenbar bedrängt fühlte, vom Ostblock, der als expansiv wahrgenommen wurde (Kubakrise 1962), aber – denken wir einen Moment über die Sowjetunion hinaus – auch durch die Dekolonialisierung (Frankreichs Krieg in Algerien war gerade erst beendet) und die Entstehung der blockfreien Staaten 1961. Der US-Agent kann oder will nicht über den eigenen Tellerrand blicken, in gewisser Weise ähnlich wie heute.
Gleichzeitig springt auch ein Funken Erotik über, insbesondere als Womanizer OSS 117 nach Brigittas Beziehung zu Renotte fragt: „Sind Sie seine Geliebte?“ – „Ein bisschen.“ Als er nachfragt, was denn „ein bisschen“ bedeute, antwortet sie: „Ich schlafe mit ihm, aber ich bin nicht verliebt.“ Und schon trifft entspannte, offene europäische Sexualität auf amerikanisches Draufgängertum und Eroberungswillen. Doch anders als beim britischen Agenten James Bond, dem die Frauen meist erliegen, bekommt unser Protagonist die kühle Blonde auf eher dubiose Weise ins Bett. Als sie nämlich mit Renotte und anderen von einem Whiskey betäubt wird, muss OSS 117 sie einfach zu sich ins Hotelzimmer abgeschleppt und ins Bett gelegt haben. Das sehen wir allerdings nicht, sondern können das zweifelsfrei aus der Tatsache folgern, dass sie plötzlich mit seinem Pyjamaoberteil in seinem Bett aufwacht. Vom Pyjama notabene, von dem er das passende Unterteil trägt. Was hier gar nicht auf gegenseitigem Einverständnis beruht, ist wohl auch eine Metapher für die „Rekolonialisierung“: Auch geopolitisch wird sich der Westen, in die Ecke gedrängt, nicht um gegenseitiges Einverständnis kümmern. Erobern ist auch bei OSS 117 doppeldeutig. Man könnte auch darüber spekulieren, weshalb gerade auch im stolzen Frankreich ein US-Spion für Aufklärung sorgt. Vielleicht, weil mit Frankreichs verlustreichem Kriegseinsatz gegen Nordvietnam in den fünfziger Jahren sich bereits zur Zeit der Produktion des Films abzeichnete, dass die USA sich der Causa Vietnam annehmen würden – was sie mit dem Kriegseintritt 1964 auch offiziell taten.
Aber in OSS 117 GREIFT EIN werden noch kleinere Brötchen gebacken. Keine sowjetische Invasion droht und kein megalomaner Kapitalist will die Erdengemeinschaft erpressen. Es haben sich lediglich ein paar sowjetische Agenten in den Grotten Korsikas eingenistet, um die Bewegungen amerikanischer Atom-U-Boote im Mittelmeer aufzuspüren, mit ein paar schrulligen Geräten, die einem SciFi-B-Movie aus den Fünfzigern entnommen scheinen. Der interessanteste Russe, Sacha, wird vom überaus schräg aussehenden, chilenischen Schauspieler Daniel Emilfork gespielt. Seine Rolle verschaffte ihm noch mehr Spionagefilm-Präsenz: in MORD AM CANALE GRANDE (1964), in der britischen Agentenparodie L – DER LAUTLOSE (1965) und im weirden Schweizer Spionagefilm DER UNBEKANNTE VON SHANDIGOR (1967). Später Geborene dürften sein Gesicht aus dem Steampunk-Fantasymärchen DIE STADT DER VERLORENEN KINDER (1995) von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro kennen.
Dass als Auftakt der OSS 117-Serie ein durchaus gelungener Film entstand, verdanken wir Regisseur André Hunebelle, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gute Filme in den verschiedensten Genres drehte. In den Fünfzigern erfolgreich mit den Abenteuerfilmen mit Jean Marais, und in den Sechzigern (gleichzeitig mit den drei von ihm abgedrehten OSS 177-Filmen) mit den FANTOMAS-Filmen mit Louis de Funès und Jean Marais.
OSS 117 se déchaine
Frankreich 1963
Regie: André Hunebelle
Drehbuch: Raymond Borel, Pierre Foucaud, André Hunebelle, nach Jean Bruce
Kamera: Raymond Pierre Lemoigne
Musik: Michel Magne
Darsteller: Kerwin Matthews, Nadia Sanders, Henri-Jacques Huet, Albert Dagnon, Irina Demick, Daniel Emilfork u.a.
Laufzeit: 110min.