KNIVES OUT ist nun zu einer Serie geworden. Nach dem großen Erfolg des Erstlings, KNIVES OUT – MORD IST FAMILIENSACHE, brachte Drehbuchautor und Regisseur Rian Johnson den Folgefilm nicht mehr in die Kinos, sondern verkaufte sie dem meistbietenden Streamingdienst. Mit einer Rekordsumme von 469 Millionen Dollar machte Netflix das Rennen.
Die KNIVES OUT-Filme aktivieren ein lang vergessenes Genre, den Whodunit, genauso wie fast zeitgleich Kenneth Branaghs Hercule-Poirot-Remakes MORD IM ORIENT EXPRESS (2017) und TOD AUF DEM NIL (2022), von denen vor allem ersterer richtig misslang. Rian Johnson hat sich auch etwas mehr gefordert als Branagh. Er wollte nicht einfach eine alte Agatha-Christie-Kamelle neu verfilmen, sondern er erfand gleich einen eigenen Christie-mäßigen Superschnüffler à la Poirot oder Miss Marple. Benoit Blanc (Daniel Craig) könnte tatsächlich dem leicht schrulligen Detektivuniversum von Agatha Christie entsprungen sein: Er bewegt sich nur mäßig geschickt in der verlogenen Welt der High Society, erweist sich aber als sehr präziser und selbstsicherer Aufklärer von Verbrechen.
So sind denn auch die wichtigsten Assets der beiden Benoit-Blanc-Filme ihre Drehbücher. Tatsächlich werden die Zuschauer ganz klassisch in die Aufklärung eines Mordfalls verwickelt, bei dem jeder und jede der Mörder sein könnten, bei dem die Komplexität der Scheinlösungen, Überraschungen und Kehrtwendungen nur ein Ende zulassen: Benoit Blanc dröselt in Anwesenheit aller Verdächtigen das intellektuell auf, bei dem wir längst die Fäden aus der Hand gegeben haben.
Im ersten Film ging es noch um „altes Geld“. Ein superreicher Mann stirbt, eine ganze Schar potenziell Erbberechtigter macht sich verdächtig. Ganz die Welt, die auch Agatha Christie schon beschrieben hat. In GLASS ONION: A KNIVES OUT MYSTERY geht Johnson nun einen Schritt weiter: Er platziert das Mysterienspiel auf der Insel des Neu-Superreichen Miles Bron (Edward Norton), der allerlei bedeutende Freunde zu einem Weekend eingeladen hat. Alles alte Freunde, Emporkömmlinge, die den Aufstieg in höchste gesellschaftliche Sphären geschafft haben: Die demokratische Gouverneurin Claire Debella (Kathryn Hahn), der weibliche, privat völlig unwoke Popstar Birdie Jay (Kate Hudson), der brillante Wissenschaftler Lionell Toussaint (Leslie Odom Jr.), der prollige, aufgepumpte Influencer Duke Cody (Dave Bautista), der antifeministische Statements postet, aber unterm Scheffel seiner Mutter steht, sowie dessen Freundin Whiskey, eine dumme Blondine wie aus dem Comedy-Lehrbuch (Madelyn Cline). Aber auch Miles’ mysteriöse Ex-Geschäftspartnerin Cassandra Brand, die noch nie bei einem der heiteren Kriminalrätsel-Veranstaltungen dabei war (Janelle Monae), taucht zur Überraschung aller auf. Und Benoit Blanc – der allerdings nicht von Miles eingeladen wurde, sondern – wie schon im ersten Film – von Unbekannt.
Tagsüber am Pool entdeckt Blanc wie beiläufig, dass Miles nicht von allen geliebt wird, dass er seine Freunde vielmehr in Abhängigkeit hält. Das Bedeutungsvolle verbirgt sich hinter dem Unwichtigen – wie bei Agatha Christie entsteht so eine Oberflächenebene und eine darunter liegende Ebene (die Ebene der Wahrheit). Genauso verfährt die Story am Abend bei Miles’ Kriminalspiel, das von Blanc aufgeklärt wird, bevor es richtig losgegangen ist. Die Subebene der Wahrheit beginnt, durchzubrechen. Im Unterschied zu Christie oder zum ersten KNIVES OUT-Film geht es hier jedoch um Politisch-Wirtschaftliches.
Sorry, ab hier wird gespoilert: In Rückblenden erfahren wir, dass Cassandra Brand die Firma „Alpha“ mit Miles gründete und zum Erfolg brachte. Ihr Nachname „Brand“ verweist dabei auf ihr Wirtschaftswissen, sie verkörperte quasi den Brand der Brands mit Namen „Alpha“ (natürlich klingt beim Konzernname auch der Google-Konzern „Alphabet“ mit an). Ihr Vorname verweist auf ihre Rolle im Konzern: Sie sieht das Unheil kommen, als Miles das gesamte Alpha-Vermögen in das neue Projekt „Klear“ umschiften will – in eine noch unausgegorene Energiegewinnungsmethode aus Meerwasser. Aus diesem Streit heraus zeigt sich auch in Rückblenden, dass Cassandra ermordet wurde (was niemand außer dem Mörder weiss) und ihre Zwillingsschwester Helen (auch hier griechische Mythologie: Helena von Troja) die Cassandra vortäuscht. Beweislast und Lüge fokussiert sich auf den Nukleus des erfolgreichen Unternehmens Alpha: eine Serviette, auf der Miles die Idee zum Startup hatte. Beziehungsweise Cassandra. Wer hatte die Grundidee für Erfolg und Reichtum? Dafür werden die Freunde eingespannt und zu Falschaussagen gezwungen.
Über all dem thront die echte Mona Lisa. Dieses Gemälde aller Gemälde hat sich Miles Bron nämlich ausgeliehen und in einem Glaskubus ausgestellt. Sie ist lediglich ein Zeichen seiner Eitelkeit, doch die darunter liegende Ebene, ihr rätselhaftes Lächeln, bleibt der illustren Gesellschaft verborgen.
Und noch was: Eine Glaskuppel in Zwiebelform überragt die ganze Insel. Was das mit dem gleichnamigen Beatlessong (folgt im Abspann) zu tun hat? Vielleicht die Doppelbödigkeit. „Glass Onion“ vom White Album ist ein Song, dessen Lyrics sich ständig auf andere Beatlessongs beziehen, also eine tiefere, darunter liegende Bedeutungsebene erschaffen, die aber als Rätsel angelegt ist. Wenn Lennon beispielsweise über „I’m the walrus“ reflektiert, gibt er etwa den seltsamen Hinweis „Well, here’s another clue for you all / The walrus was Paul“. Wer durch die vielschichtige Zwiebel (oder die zurückgebundenen Tulpen) schaut, entdeckt die wahre Welt der Reichen: „Looking through the bent back tulips / To see how the other half lives / Looking through a glass onion“.
Glass Onion: A Knives Out Mystery
USA 2022
Regie & Drehbuch: Rian Johnson
Kamera: Steve Yedlin
Musik: Nathan Johnson
Darsteller: Daniel Craig, Janelle Monae, Edward Norton, Dave Bautista, Kate Hudson, Kathryn Hahn, Leslie Odom Jr., Madelyn Cline, Hugh Grant u.a.
Laufzeit: 140 min.