Die Länge des Films ist indisch: 142 Minuten. Das Indien, das wir sehen, haben wir im Film allerdings noch nie so gesehen. Anurag Kashyaps KENNEDY ist ein in Farbe gedrehter Noir-Film, der zur Zeit der Covid-Pandemie handelt. Wir sehen Mumbai nicht nur bei Nacht und atmosphärisch ausgeleuchtet, sondern auch leer. Um das in der indischen Millionenmetropole hinzukriegen, drehte Kashyap 30 Nächte lang von Mitternacht bis 4 Uhr morgens.
KENNEDY ist ein knallharter Genrefilm mit einer interessanten Grundidee: Uday Sheety, großartig gespielt von einem auf Schlafentzug gesetzten und Körperumfang angefressenen Rahul Bhat, ist einer der skrupellosen korrupten Cops in Mumbai, der aber einen Schritt zu weit ging, als er den Bruder einer berühmten Schauspielerin ermordete. Weil Sheety nicht nur von der Rache am Tod seines Bruders getrieben wird (dazu sucht er einen Killer namens Saleem), sondern grundsätzlich Freude am sadistischen Morden hat, wird er von seinem Chef, Polizeihauptmann Khan (Mohit Takalka) kurzerhand für tot erklärt und als Auftragskiller für die wirklich schmutzigen Polizeijobs eingesetzt. Unter dem Pseudonym Kennedy führt er fortan einen nächtlichen Taxidienst, immer bereit für Mordeinsätze. Das führt mitunter zu wunderschön inszenierten Mordszenen des Psychopathen, in denen er seine Lieblingsschallplatte mitbringt und zum Mord hört. Europäische klassische Musik – wie auch fast der gesamte Soundtrack des Films. Auf der anderen Seite „passieren“ aber auch schon mal völlig verirrte, grausame Morde, in dem er Bystander und Zeugen aus dem Rollstuhl wirft, oder einfach den Balkon hinunter schmeisst.
Die Einflüsse von Jean-Pierre Melville und anderen Film-Noir-Regisseuren der 1970er Jahre sind in KENNEDY nicht zu übersehen – und beinahe unnötig zu erwähnen, dass im Film kaum gesprochen wird. Natürlich fehlt auch nicht eine grandiose, Sonnenbrille tragende Femme Fatale, Charlie, die er nach seinem Mord erstmals im Lift trifft und die ihn mit ihrem überraschenden, irren Lachen aus der Fassung bringt. Gespielt wird sie übrigens von Sunny Leone, bekannt geworden als erster indischer Pornostar in den USA („Penthouse Pet of the Year“ 2003, danach Exklusivvertrag bei Vivid). Ab 2012 stoppte sie ihre Pornokarriere und arbeitete in Bollywood hart an einer Schauspielerinnenkarriere. Kein einfaches Unterfangen, in den Medien wird sie oft hart angegangen (bekannt dafür das Interview des Top-Moderators Bhupendra Chaubey). Kashyap zur Wahl Leones im indischen Rolling Stone: “There’s nobody better than Sunny. She has been judged all her life. She has never been given that chance though she has worked so hard at putting the whole past behind her. The world is shit. She puts up a simple post and you see such vulgar comments from such shit people, it makes you angry. I saw her interview with Bhupendra Chaubey where Bhupendra Chaubey was being such an asshole and the way she dealt with it, with such dignity.” Erwähnt sein soll das, weil das Casting von Sunny Leone als eine der subversiven Facetten von Kashyaps Film gelten darf.
Zwar befinden wir uns in KENNEDY mitten in der Pandemie, doch die Thematik findet nur in unauffälligen Gesprächsfetzen von Nebendarstellern Erwähnung, und das Maskentragen – von westlichen Filmern ungern eingesetzt – wird hier zwar längst nicht permanent, aber doch immer wieder praktiziert, ohne dass man einen irren Antimaskenkoller bekommen würde. Und gehören Masken nicht zu einem Gangsterfilm? Genauso wie Autoverfolgungen? Auch in diesem Genreteil hat sich Kashyap etwas Außerordentliches ausgedacht: Kennedy steigt aus dem Auto, rennt über die Überführung einer großen Straße, um dann wieder in sein eigenes Auto einzusteigen.
Ein Problem hat der Film allerdings: All diese wunderbaren Einzelteile fügen sich nicht zu einem großartigen Ganzen zusammen. Im Gegensatz zu Melvilles oft fast in Realzeit ablaufender Chronologie (LE CERCLE ROUGE), setzt Kashyap seine Einzelteile in einer komplexen zeitlichen Verschachtelung zusammen, was die Story kaum verständlich macht. Wer macht wann genau was und weshalb? Immer wieder werden Zuschauerinnen und Zuschauer mit dieser Frage konfrontiert, was streckenweise den Genuss am Visuellen und der perfekten Anwendung der Genretrickkiste raubt.
Trotzdem hat es KENNEDY verdient, gesehen zu werden. Nicht zuletzt, weil der Film trotz seiner klaren Film-Noir-Künstlichkeit ein heikles Thema in Indien anspricht. Die Korruption der Polizei, die tief ins Verbrechen hinein reicht. Indische Zuseher werden sich an den Fall der Bombe beim Haus des indischen Milliardärs Mukesh Ambani in 2021 erinnern. Die Bombe, die nicht hochging, führte die Untersuchenden nämlich zu Sachin Vaze, einem Polizisten aus Mumbai, der Erpressungen und andere Verbrechen im Dienste des Innenministers des Bundesstaates Maharashtra, Anil Deshmukh, ausführte. Auch wenn Deshmukh Parteimitglied der oppositionellen Nationalist Congress Party ist und sich zur Zeit in Untersuchungshaft befindet, muss noch ein anderer Politiker aus Modis regierender Partei mitinvolviert sein – so dass die indische Regierung möglicherweise nicht gewillt ist, den Film Ende des Jahres in Indien zuzulassen.
Das wiederum war der Grund, so Anurag Kashyap am NIFFF, den Film zuerst in Cannes und an möglichst vielen anderen renommierten Festivals zu zeigen. So soll der Druck auf die indische Zensurbehörde erhöht werden, den Film durchzuwinken.
Kennedy
Indien 2023
Regie & Drehbuch: Anurag Kashyap
Kamera: Sylvester Fonseca
Musik: Amir Aziz u.a.
Darsteller: Rahul Bhat, Sunny Leone, Mohit Takalkar, Abhilash Thapliyal, Megha Burman u.a.
142 min.
Der Film lief am Neuchâtel International Fantasy Film Festival 2023