Der Film beginnt mit einem halbstündigen Knall. Einer wilden Party hoch oben in den Hollywood-Mountains in einer großen Villa, die wie ein feudales Schloss über der Welt thront. Im Innern geht es ab. Spektakulär werden alle Register an Ausstattungen und dekadenten Verhaltensweisen gezogen – Drogen, Alkohol, nackte Brüste, Masken, Freaks, wilde Tänze, Geschlechtsverkehr in allen sexuellen Färbungen werden hier noch einmal lecker und mit großer Geste aufgezeigt. Und als Höhepunkt ein Elefant, der durch die Party schreitet. In einem Hinterzimmer misshandelt ein ekliger fetter Typ eine junge Schauspielerin, die plötzlich halbtot herumliegt und weggeschafft werden muss. Willkommen im dekadenten Hollywood der 20er Jahre! Hier trifft Reichtum auf den Glamour der großen Hollywood-Schauspieler.
Wie viele andere Charaktere im Film klingt auch der dicke Schauspieler an einen der großen Stars aus der wilden Welt Hollywoods der frühen 20er Jahre an. An Roscoe „Fatty“ Arbuckle, des Mordes an Schauspielerin Virginia Rappe bezichtigt und später freigesprochen, aber mit zerstörter Karriere (von der Hearst-Presse als Beispiel für den Sündenpfuhl Hollywood angeprangert). Die Geschichte von Fatty Arbuckle – wie auch andere – dürfte den Kennern von Kenneth Angers Buchklassiker „Hollywood Babylon“ geläufig sein, der berühmten Aufarbeitung von Hollywoodskandalen in den wilden Zwanzigern. Natürlich lehnt sich Damien Chazelles Film bereits im Titel an Angers Buch an. Die Metapher „Babylon“ scheint inzwischen als fester Begriff für die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu stehen. Siehe auch Tom Tykwers großartige Serie BABYLON BERLIN, in der die zwanziger Jahre in Berlin ebenfalls als Zeit der Extreme dargestellt werden, allerdings um einiges differenzierter als bei Chazelle. „Babylon“ bei Chazelle ist amerikanischer, meint zügellose Ausschweifungen ohne Rücksicht auf rechte Moralapostelei oder linke Wokeness. Als Zeit, als sich alles dem kapitalistischen Verwertungssystem und der eigenen Bedürfnisbefriedigung unterordnete. „Babylon“ bei Tykwer meint auch die politischen Wirren und Zuspitzungen im Berlin der Weimarer Republik. Den beiden ist jedoch gemein, dass mit dem Wort „Babylon“ eine extrem freie Hochkultur charakterisiert wird, die vor „unserer“ Hochkultur existierte, die sich seit den 1950er Jahren ausbildete und deren ausschweifende Dekadenz und politische Unübersichtlichkeit seit Ende der 1960er Jahre richtig zur Blüte gelangte. So wie die unbekannte babylonische Hochkultur vor den bestens bekannten griechischen und römischen Hochkulturen existierte. Die Hochkultur Babylon war immer schon ein Ort der Projektionen. Genauso ist es die Metapher „Babylon“ für die Zwanziger.
Noch vor der Party beginnt der Film aber mit dem zukünftigen Regieassistenten Manny Torres (Diego Calva), der einen echten Elefanten als Hauptattraktion durch einen Wüstenabschnitt zur Partyvilla bringen muss und im mühsamsten Moment des Berg-hinauf-Stoßens mit einer schier endlosen Menge an durchfallartiger Elefantenscheiße geduscht wird. Wir Zuschauer werden mitgeduscht, denn die Kamera fängt das per POV-Shot ein. Körperliches Ausscheiden in Form von Scheißen und Kotzen ist eine durchgehende Metapher in BABYLON – RAUSCH DER EKSTASE. Auch der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm (um den es hier auch geht) beginnt quasi mit Toilettengeräuschen. Die Geschichte Hollywoods nach Chazelle ist ein einziges Hineinstopfen und Herauskotzen, Dinge rasch verarbeiten – so, wie Schaupiel-Superstar Jack Conrad (Brad Pitt) nicht nur Alkohol wegtrinkt und Frauen verschleißt, sondern auch stets neue Trends, europäisches Kino und Kunst schnell in die Verwertungsmaschinerie Hollywoods einschleusen will. Dass am Ende des Films Chazelle selbst in einem finalen Anflug von Größenwahn auch die ganze Filmhistorie über die Leinwand jagt von EIN ANDALUSISCHER HUND, über 2001: A SPACE ODYSSEY bis hin zu AVATAR und der Einblendung „Le Fin du Cinema“ aus einem Godardfilm, macht den Film nicht besser, zeigt aber überspitzt Hollywoods gigantisches Ausspucken der gesamten Kinogeschichte – wovon Chazelle natürlich Teil ist.
Die Menschen in Hollywood selbst werden auch nur verdaut und ausgeschissen. Superstar Jack Conrad hat Probleme, weil sein Superstarstatus im freien Fall ist und seine Filme nicht mehr ziehen. Mannys Love-Interest, die wilde und verrückte Nellie LaRoy (Margot Robbie – Twenties-Hollywoodstar Marion Davis nachempfunden), die – wie Manny – „immer Teil von etwas Größerem“ sein will, passt mit ihrer Exaltiertheit und ihrer Fähigkeit, auf Abruf Tränen vor der Kamera zu erzeugen, perfekt in die Welt der Zwanziger, und wird Anfang der Dreißiger Jahre gnadenlos vom Tonfilmsystem ausgespuckt. Ganz toll ist da auch die Erich-von-Strohheim-Parodie Otto von Strassberger (Spike Jonze), der wie ein Derwisch bzw. wie Cecil B. DeMille über das Set herrscht und dabei auch Verletzte bis hin zu Toten in Kauf nimmt – und in den Dreißigern nicht mehr vorhanden ist. Manny Torres schafft es dagegen vom Best Boy, der den Regisseuren alles perfekt organisiert und die kleinen Probleme am Set löst, die schnell zu großen anwachsen, selbst zum Regisseur, der – so sieht es aus – einen Moment lang gar den Schritt zum Tonfilm schafft, aber dann aus Liebe zu Nellie seine Karriere aufgibt. Nellies chaotischen Wahnsinn, ihre Ansammlung von Überresten des vergangenen Jahrzehnts (Schulden, Unüberlegtheit, Drogen), kann auch seine Person nicht soweit stabilisieren, dass er im Business bleibt.
Mit dem Wechsel zum Tonfilm bekommt die „Familie“ der 1920er Hollywoodstars im Film diese melancholische Wendung, wie wir sie von BOOGIE NIGHTS her kennen, wo durch den Paradigmenwechsel von 35mm auf Video aus der Pornostar-Familie der Siebziger gebrochene Charaktere werden, die mit Psychopathen zusammen arbeiten und sich für weniger Geld und ohne Freude prostituieren müssen. In Chazelles Film führen Nellies Schulden dazu, dass Manny und ein Helfer sich von Mafiaboss James McKay (wunderbar psychopathisch: Tobey Maguire) in eine Unterweltparty durch die Tiefen einer klaustrophobischen Höhle führen lassen, in der sich die Partygäste nur noch an Sadismus, Schmerz und Snuff mit Alligatoren delektieren. Was uns Chazelle damit sagen will, wird nicht ganz klar: Haben die konservativen Dreißiger Jahre erst den Untergrund- und Snufffilm entstehen lassen? Oder zeigt Chazelle damit, dass der rücksichtslose Verwertungskapitalismus in den Dreißigern einfach einen Moment lang in den Untergrund stieg und sich dort radikalisierte?
Manny Torres wird auch zum Zuschauer. Als er nach dem 2. Weltkrieg mit Ehefrau und Kind Ferien in Los Angeles macht und allein ins Kino geht, sieht er die berühmte Szene aus SINGING IN THE RAIN (1952) und weint. Die Szene triggert Chazelles erwähnten Schnelldurchlauf durch die Kinogeschichte und bezieht sich auf andere Musical-Inszenierungen desselben Songs, in deren Inszenierungen in den 30er Jahren Manny Torres selbst involviert war. Und nicht zuletzt erzählt Stanley Donens Musicalklassiker aus den 1950er Jahren eine Story, in der so manches vorgespurt wird, was Chazelles Film erzählt. Es geht um ein erfolgreiches Stummfilm-Schauspielerpaar (Gene Kelly, Jean Hagen), das nun auf Tonfilm erfolgreich sein soll. Lia Lamont (Jean Hagen) versagt mit ihrer quäkenden Stimme genauso wie Nellie LaRoy. SINGING IN THE RAIN endet mit einer großen Demütigung des weiblichen Stummfilmstars.
Babylon
USA 2022
Regie & Drehbuch: Damien Chazelle
Kamera: Linus Sandgren
Musik: Justin Hurwitz
Darsteller: Margot Robbie, Brad Pitt, Diego Calva, Jean Smart, Jovan Adepo, Li Jun Li, Tobey Maguire, Spike Jonze
Laufzeit: 181 min.