Shiny, shiny Cyberpunk.

Der Cannes-gehypte Horrorfilm des Jahres konstruiert eine Welt der Überdrehtheit mit übersteuerten, knalligen Farben (oft kontrastierend), klaren Geometrien, grotesken Inszenierungen von Essen, Männern und essenden Männern (alles mit Fischaugenlinsen) und einer hypersexualisierten Darstellung von weiblichen Aerobic-Körpern. Und als Kontrast die Gegenwelt des Bodyhorrors: Menschen, die aus Menschenkörpern schlüpfen, eklig verschmutzte Flüssigkeiten in Spritzen, verschmiertes und blutiges rotes Make-up, mit Essen verwüstete Wohnungen und nicht zuletzt ein Monster, das als formloser Glöckner erscheint, wahllos aus menschlichen Einzelteilen zusammengesetzt, ohne Oben und Unten und kein Innen und Außen.

Coralie Fargeats zweiter Spielfilm überrollt die Zuschauer – ähnlich wie Yorgos Lanthimos – mit großem visuellem und vollem Körpereinsatz. Elisabeth Sparkle (Demi Moore, perfektes Casting) ist Star einer TV-Aerobic-Show, doch ist Sparkle nach Meinung ihres Produzenten langsam zu alt, um genügend Zuschauer anzuziehen. Ein Assistenzpfleger gibt ihr den Tipp, sich mit einer geheimnisvollen Behandlung, „The Substance“, zu verjüngen. Der schmudddlige Hinterhof im sonst so hochcleanen Los Angeles, in dem sie die mysteriösen Pakete in einem Schließfach findet, erinnert an 1980er Filme wie VIDEODROME (Hi-Tech aus Schmuddelecken, Cyberpunk). Alle anderen Locations zeigen das L.A. von BODY DOUBLE, die shiny Oberfläche, allerdings nicht in dieser menschenfreundlichen Smoothness von De Palmas Los Angeles, sondern in einer eher menschenfeindlichen Bunkerarchitektur. ‚Body Double‘ ist das Stichwort dafür, was in der Folge geschieht: Im Paket voller Spritzen und Flüssigkeiten mit einem „bolden“ Branding (basierend auf einem Font: einer Helvetica-Variante? Im Netz streitet man sich) kommt das Versprechen, dass die Substance „a better version of yourself“ erschaffe, und das geht einher mit einem perfiden Wechselspiel zweier Körper – die eigentlich ein Geist bleiben sollten. Nach der Injektion schlüpft in ihrem großen, weiß gekachelten Badezimmer eine attraktive, glamouröse jüngere Version aus Elisabeths Rücken, die sich fortan Sue nennt (Margaret Qualley). Elisabeth und Sue sollen sich alle 7 Tage abwechseln in ihrer Existenz, so die Bedingung des genetischen Verjüngungstrips. Die eine lebt, während die andere leblos im Badezimmer liegt. Dann ist die andere aufgetankt und kann wieder leben.

Sue, in einem rosa-metallisierten, knappen Aerobicdress und unterstützt von übersexualisierten Close-Ups auf den Hintern und zwischen die Beine, wird bei der Audition vom Fleck weg engagiert von Elisabeths schmierigem, arroganten Produzenten Harvey (Dennis Quaid). Dass nichts subtil ist in Fargeats Film, zeigt sich besonders gut an Harvey … und ja, er heißt „Harvey“! Als er einige Szenen zuvor Elisabeth in einem Restaurant erklärt, dass nach 50 die Attraktivität aufhört, frisst er auf unappetitliche Weise Shrimps mit Mayonnaise, kaut mit offenem Mund darauf herum, während sich hinter ihm eine junge Kellnerin in kurzem Rock einem andern Gast zubückt und wir Zuschauer in dem Moment praktisch ihren nackten Hintern sehen. Es geht um Sexualisierung junger Körper und den „male Gaze“ (männlichen Blick) in seiner primitivsten Form, nicht um Attraktivität.

Aus der Aerobic-Show “Sparkle your life with Elisabeth” wird “Pump it up with Sue”. Ersterer Titel bezeichnet den Wunsch, dem Leben etwas Glamour hinzuzufügen, im zweiten Titel mit seiner Geschlechtsverkehr-Implikation geht es um den pornografischen Körper. Von Anfang an wird auch klar, dass Elisabeth und Sue nicht „eins“ sind, wie von der Firma gefordert, sondern dass sich die junge Sue mental immer mehr abspaltet von der alternden Elisabeth. Sie lebt ihr neues, aufregendes eigenes Leben, an dem Elisabeth nicht partizipieren kann. „Festzustellen, dass der Blick von einem weg zu jemand Jüngerem wanderte, ist eine gewaltsame Erfahrung“, teilt Fargeat der Neuen Zürcher Zeitung mit. Wir erleben das aufregende Leben der jungen Sue voller Erfolg, Männeraufriss und Ruhm, und die selbst(ver)zweifelnde Depression der alternden Elisabeth mit Fresssucht, Selbsthass und panischem Aufdonnern mit Minikleid und zu starkem Make-Up (als ob Demi Moore mit ihren 61 Jahren nicht noch fabulös aussehen würde).

Es gibt keine ungeplanten, vom Unbewussten geleiteten Umwandlungen wie bei Jekyll/Hyde, die Rückführung wird durch die Nahrungsbeutel und Spritzen angezeigt und ist streng wissenschaftlich. Bis die Leidenschaft der jungen Sue ihre Vernunft ausschaltet und sie sich nicht mehr an die verabredeten sieben Tage hält. Was beiden nicht gut zu stehen kommt. Auch in der heutigen, rationalen Zeit stellt sich das Unbewusste über Wissenschaft. Nein, wir sind nicht vernünftiger geworden in den letzten 140 Jahren – und obwohl Sue ihre Möglichkeiten in extremis ausreizt, vermag Elisabeth Sue nicht umzubringen. Die Frage allerdings, auf welche Art und weshalb nicht die beiden alternierenden Charaktere ausschließlich ein Bewusstsein haben und wie sich das manifestiert, vermag Fargeat nicht schlüssig aufzuzeigen. Da schwächelt der Film – der ansonsten eher an Übererklärung krankt -, obwohl in dieser Alter-versus-Jugendwunsch-Dichotomie die eigentlich spannende inhaltliche Frage stecken würde. Coralie Fargeats THE SUBSTANCE ist laut, direkt und simpel, während ihr Body-Horror Counterpart, die ebenfalls französische Regisseurin Julia Ducournau (TITANE) laut, komplex und tiefsinnig ist.

Der „Male Gaze“ ist jedoch längst zum weiblichen, selbstkonstituierenden Blick geworden. Im Zentrum ihres großen Wohnzimmers hängt ein Ganzkörperportrait von Elisabeth, das ihre vielen Portraits im schier endlosen Gang des Filmstudios wieder aufnimmt. Das mediale Bild konstituiert die eigene Identität. Und die zerbricht sofort, als sich Sue zur medialen Figur hochschwingt. Sues Bilder anstelle von Elisabeths im TV-Studio und ein Megaposter unmittelbar vor der Fensterfront des Wohnzimmers anstelle von Elisabeths Portrait. Der Ursprung für diese Problematik findet sich aber immer noch im guten, alten Spiegel. Das Spiegelbild bei Fargeat ist intim, grausam, wahr. Oder einfach wunderschön, wie bei Sue.

Natürlich ist THE SUBSTANCE vor allem auch ein Film über Ruhm und seine zerstörerische Wirkung, beginnend und endend mit einem Shot auf den Hollywood Walk of Fame, auf Elisabeth Sparkles Stern. Wo der von uns akzeptierte und höchst verehrte Celebrity-Körper endet, ist in etwa der gleiche Ort (oder die gleiche Statur), an dem bereits die Körper in Brian Yuznas SOCIETY (1989) endeten.

The Substance
USA/UK/F 2024
Regie und Drehbuch: Coralie Fargeat
Kamera: Benjamin Kracun
Musik: Raffertie
Darsteller: Demi Moore, Margaret Qualley, Dennis Quaid u.a.
Laufzeit: 114 min.

Fotos: Mubi/DCM