Der Weg allen neuen Fleisches.

Als David Cronenbergs neuer Film auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam in einer Mitternachtsvorführung gezeigt wurde, erwies sich diese als überraschend mäßig besucht. Das mag daran gelegen haben, dass schon sein vorangegangenes Werk CRIMES OF THE FUTURE bei den Fans ungerechtfertigterweise auf nicht viel Gegenliebe gestoßen war. Sein neues Werk THE SHROUDS erweist sich sogar als noch reduzierter und abstrakter. Dabei klingt die Ausgangssituation zunächst einmal wieder sehr provokativ und interessant: Ein Beerdigungsinstitut bietet eine besondere letzte Ruhestätte für die Verstorbenen: die „Shrouds“. Angehörige können den Zerfall ihrer Lieben, die in einen horizontal aufgestellten Hochtechnologie-Sarg gebettet sind, online verfolgen. 

Als der Institutsbesitzer (Vincent Cassel) eines Morgens zum Friedhof kommt, findet er die Marmorsärge umgekippt und zerstört vor. Insbesondere den Sarg seiner jüngst an Krebs verstorbenen Frau scheint es besonders getroffen zu haben. Was zunächst als Akt willkürlichen Vandalismus erscheint, entpuppt sich mit der Zeit als persönlicher Angriff mit globalen Dimensionen. Oder ist das alles nur die Einbildung eines trauernden Witwers mit schlechtem Gewissen, der sich mit der Zwillingsschwester seiner Frau (Diane Krüger in einer Doppelrolle) vergnügt?

Cronenbergs neues Werk ist ein seltsam steriles Puzzle aus den bekannten Themen des Regisseurs: Die Liebe zu einer Person, die sich mit der Zeit in etwas anderes verwandelt – hier einmal nichts Lebendes wie in THE FLY oder VIDEODROME, sondern in Totes als finale Metamorphose. Es gibt die schon in DEAD RINGERS vorhandene Zwillingsthematik, ebenso wie die Frage nach der Veränderung des Menschen durch die Medientechnologie. Wie in VIDEODROME der Kathodenstrahl des Fernsehers physische Mutationen im von James Woods portraitierten Rezipienten auslöst, verändert die visuelle Dokumentation in den Shrouds die Psyche, genauer: die Trauerverarbeitung der Betroffenen. Sie bietet eine neue Form des ritualisierten Abschiednehmens, die jedoch keine Erlösung verspricht, sondern die Trauer verfestigt. Die gewünschte Katharsis findet nicht statt. Cronenberg liefert hier ganz nebenbei auch einen kritischen Kommentar zum Dokumentierungswahn per Smartphone in der heutigen Gesellschaft und kommt zu der ernüchternden Erkenntnis, dass sich die Zeit nicht anhalten lässt und Überwindungsprozesse und damit eine persönliche Weiterentwicklung eher verhindert werden. Dabei nähert er sich den Themen auf eine sehr abstrakte, brechtsche Weise: Cronenberg tut in THE SHROUDS alles, um seine Protagonisten auf Distanz zum Zuschauer zu halten. Das lässt den Film mit seinen endlosen Dialogen, obwohl hier und da auch einmal überraschend Humor aufblitzt, extrem akademisch wirken. Die Narration scheint den Meister hier nicht interessiert zu haben, so mäandert sich der Plot von einer intellektuellen Diskussion über Vergänglichkeit und Sex mit brustamputierten Frauen zum nur angerissenen Plot einer weltweiten Industriespionage. Kritiker bezeichneten THE SHROUDS als extrem persönliches Werk, in dem Cronenberg versucht, den Tod seiner Frau zu verarbeiten, doch der Regisseur bestreitet im Interview trotz der biographischen Parallele eine allzu große Nähe zu seinem Privatleben. Und persönlich waren seine Filme ob Ihrer sehr spezifischen Thematik ohnehin schon immer. Dennoch kann man die autobiografische Dimension kaum übersehen. Vincent Cassel, mit silbernem Haar, erinnert stark an Cronenberg selbst. In seinem Charakter spiegelt der Regisseur sein eigenes Altern, seine eigene Trauer. THE SHROUDS ist damit nicht nur ein weiterer Cronenberg-Film, sondern eine Introspektion in filmischer Form.

In David Cronenbergs Alterswerk konzentrieren sich die Ideen seiner langjährigen Karriere. Das Angenehme am Altwerden ist ja, dass man sich um keine Konventionen mehr scheren muss, und genauso sieht THE SHROUDS auch aus, der starken Parallelen zu seinem Debütroman CONSUMED und dem zugehörigen Kurzfilm ausweist. Auch dort gibt es neben der mäandernden Erzählstruktur eine Vielfalt an eingearbeiteten, aber nie zu einem narrativen Ganzen zusammenkommenden Ideen. Während das Buch seine Protagonisten noch über die ganze Welt führt, wirkt THE SHROUDS mit seinem Fokus auf den Friedhof und die Wohnung wie ein Kammerspiel, das sich erst am Ende vor (gewollt?) billigen Kulissen in die Welt öffnet. Aber selbst diese Welt ist eine rein cronenbergsche Interpretation – eine Hyperrealität voller privater Bezüge. Trotz mal mehr und mal weniger bizarrem Sex, mysteriösen technischen Bauteilen in verwesenden Leichen und einem manchmal überraschenden Wortwitz bleibt Cronenbergs Blick auf seine Protagonisten distanziert und steril – die Schauspieler tun ihr Übriges, eher unemotional daherzukommen. Die Innenräume vermitteln mit ihrer modernen, kalten Architektur kein Gefühl von Behaglichkeit, und auch Howard Shores elektronischer Score erzeugt trotz wabernder Klangteppiche eine eher dystopische Atmosphäre. Das Ganze erinnert an einen bizarren Versuchsaufbau, der mit all seinen Querverweisen und Andeutungen nur eher dürftig von einer Narration zusammengehalten wird. Cronenberg liefert eine ganze Reihe von Denkanstößen, bietet aber nur Skizzen statt offensichtlicher Analysen. Der Zuschauer ist zum Selberdenken aufgefordert – was das Potenzial an der Kinokasse für den Produzenten derartig geschmälert haben muss, dass der Film nur mit einer sehr begrenzten Anzahl an Kopien in seinem Heimatland Kanada in die Kinos gebracht wurde. In Deutschland fand der sperrige Film bislang noch nicht einmal einen Verleih.

Laut der Aussage des Regisseurs plant er weiterhin eine Verfilmung seines Buches CONSUMED. Die ist ihm mit THE SHROUDS eigentlich schon gelungen, denn der Film spielt in derselben Welt, in der asiatische Hightech-Konzerne mittels Industriespionage dunkle Netzwerke spannen. Und wie schon im Buch bleiben die Hintergründe und Details nebulös – das ist gleichzeitig frustrierend wie befreiend. Die finale Szene zeigt ein Flugzeug auf dem Weg in einen noch zu entdeckenden, roten Morgen. Und mit ihm eine Aufschlüsselung all der vorhandenen Andeutungen.

The Shrouds
Land 2024
Regie & Drehbuch: David Cronenberg
Kamera: Douglas Koch

Schnitt: Christopher Donaldson
Musik: Howard Shore
Darsteller: Fester Bestertester, Fester Bestertester, Fester Vincent Cassel, Diane Kruger, Guy Pearce u.a.
Laufzeit: 120 min.

Fotos: ©
SBS International