Anlässlich des 50. Todestages des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini zeigte die Interfilm Akademie München am 3. November 2025 DIE 120 TAGE VON SODOM (SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOM, 1975). Die Studienleiter Franz Indra und Stefan Preis moderierten die Veranstaltung im Rahmen der Kriminologischen Filmreihe und diskutierten im Anschluss an die Filmvorführung Pasolinis politische Theorie.
Nur kurze Zeit nach den Dreharbeiten wurde Pasolini ermordet aufgefunden. Trotz des Geständnisses eines damals 17-jährigen Jugendlichen werden mögliche politische Motive bis heute vermutet, vor allem da der verurteilte Giuseppe Pelosi lange nach seiner Haftentlassung angab, drei Männer hätten den umstrittenen Filmemacher und Autor aus rechtsextremistischen Motiven zu Tode misshandelt. Am Ort der Tat erinnert ein kleines Denkmal an den großen Denker: ein Vogel, der nach oben in den Himmel fliegt.
Handlung
Nach der „Trilogie des Lebens“ (Pasolini verfilmte das Dekameron, die Canterbury Tales und Geschichten aus 1001 Nacht) entstand mit DIE 120 TAGE VON SODOM eines der umstrittensten Werke der Filmgeschichte, das Kritik wie Publikum bis heute schockiert und in zahlreichen Ländern nicht gezeigt werden darf. Pasolini verlegt in seinem letzten Film die Handlung der ebenso kontrovers diskutierten, 1785 geschriebenen Vorlage des Marquis de Sade vom Ancien Regime in das faschistische Italien: Die Geschichte von vier angesehenen Bürgern, die an einem abgelegenen Ort furchtbare Gräueltaten begehen, ist eine Kritik an Machtmissbrauch, autoritären Regimen und der Konsumgesellschaft.
Der Herzog (Paolo Bonacelli), seine Exzellenz, der Richter (Umberto Paolo Quintavalle), der Präsident (Aldo Valletti) und der Monsignore (Giorgio Cataldi), allesamt ranghohe Repräsentanten des Mussolini-Regimes, schließen einen Pakt. Angesichts des heraufziehenden Zusammenbruchs ihrer Macht wollen sie einen grenzenlosen Exzess jenseits jeglicher Moralvorstellungen feiern. Um sich noch enger aneinander zu binden, „heiraten“ sie untereinander ihre Töchter.
Danach lassen sie Jugendliche entführen und ziehen sich mit ihnen an einen abgeschiedenen Ort zurück. Sie setzen ihre Opfer permanenter Folter und Demütigungen aus. Die meisten der Gequälten arrangieren sich mit ihren Peinigern, die an ihren Gewalttaten keine wirkliche Freude zu haben scheinen, verraten ihre Mitgefangenen und nehmen schließlich selbst aktiv teil.
Interpretation
Bezeichnenderweise ereignen sich die Folterexzesse nicht wie bei de Sade im düsteren Schloss Silling, das abgelegen tief im Wald liegt, sondern in einer großen Villa am sonnendurchfluteten Gardasee. Im Vorspann, der von einem ungewöhnlich heiteren Soundtrack von Ennio Morricone unterlegt ist, wird auch nicht direkt de Sades Vorlage genannt, sondern verschiedene philosophische Ansätze im 20. Jahrhundert von Simone de Beauvoir, Pierre Klossowski und Maurice Blanchot, die den Text als radikale Herrschaftskritik und Warnung vor totalitären Regimen interpretieren.
Die Handlung ist in den letzten Tagen der faschistischen Republik von Salò (daher der Originaltitel) im April 1945 angesiedelt. Salò war ein faschistischer Marionettenstaat der Nationalsozialisten. Auf einem Straßenschild ist der Name der Ortschaft Marzabotto zu lesen, in dem die SS Ende September und Anfang Oktober 1944 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübte.
Immer wieder werden die Gewaltexzesse durch Zitate von Intellektuellen und Künstlern unterlegt, die zumindest zeitweilig Mitläufer in Diktaturen waren, wie von Gottfried Benn, der 1933 zunächst die Machtergreifung der Nationalsozialisten begrüßte. Die Villa ist angefüllt mit Werken Bildender Kunst, darunter in Stilen, die im Faschismus eigentlich heikel waren. Die Folterung und Ermordung der Jugendlichen am Ende des Films findet ohne Ton statt, stattdessen hört man eine Passage aus Carmina Burana, die Carl Orff fast zeitgleich mit einem Stück für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin komponierte. Diejenigen, die ursprünglich Opfer waren, schließlich selbst denunziert und mit gefoltert haben, wären zur Mitte der 1970er Jahre möglicherweise selbst im Alter und in den gehobenen Positionen der Männer, von denen sie entführt wurden.
In seinen Artikeln, die in den Monaten vor seiner Ermordung erschienen, warnt Pasolini vor einem „neuen Faschismus“ und beschrieb als „Höllenvision”, dass junge Menschen traditionelle Bindungen und Werte verlieren „und neue annehmen, die ihnen der Kapitalismus diktiert” und dabei Gefahr laufen, „einer Art Unmenschlichkeit, einer erschreckenden Sprachlosigkeit und brutalen Kritiklosigkeit zum Opfer zu fallen, passiv und zugleich rebellisch zu werden”. Der zentrale Aspekt der Macht ist für Pasolini, dass Körper in Waren verwandelt werden. Herrschaftsverhältnisse sind daher immer (nicht-sexuelle) sadistische Beziehungen.
Fazit
In den 1970er Jahren hat das (politische) Kino am meisten gewagt. Julia Ducournau, die Regisseurin von TITANE (2021), nennt DIE 120 TAGE VON SODOM eines ihrer filmischen Erweckungserlebnisse, als sie ihn mit 18 Jahren im Kino sah und von Pasolinis Freiheit überwältigt war. Ganz anders übrigens, als man vermuten würde, war der Schauspielerin Hélène Surgère zufolge die Stimmung am Set fröhlich, die Laiendarsteller im Teenager-Alter alberten herum. Seinen grimmigen Charakter erhielt der Film erst im Schnitt, ganz untypisch drehte Pasolini vorab sogar vier verschiedene Enden.
DIE 120 TAGE VON SODOM ist beim ersten Sehen wie ein Schlag ins Gesicht, obwohl er kaum krasse explizite Bilder enthält und Pasolini jeglichen Voyeurismus konsequent unterbindet. Erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt man, was alles in ihm steckt – wie etwa die stille Anklage gegen Künstler, die sich mit dem Unrecht arrangieren, durch Pasolini, der sein Leben lang gegen alle Widrigkeiten und Gefährdungen zu seinen Prinzipien stand.
Es dürfte Pasolini auch weniger um das gegangen sein, was als Sadomasochismus bezeichnet wird. Dabei handelt es sich auch um etwas Anderes als die in de Sades Schriften geschilderten Ereignisse. Sie waren aber die Vorlage für Pasolinis eigentliches Thema: Präzise und unerbittlich zeigt er, wie im Faschismus Menschen zerstört werden. Die Gräuel der faschistischen Regimes im 20. Jahrhundert sind inzwischen nicht mehr so präsent, der Begriff Faschismus wird zunehmend beliebig verwendet. Gerade deshalb ist es heute wichtig, die Filme Pasolinis zu sehen und seine Schriften zu lesen.
(Die Indizierung von DIE 120 TAGE VON SODOM in Deutschland wurde unlängst aufgehoben.)
Verwendete Literatur:
Pasolini, Pier Paolo (1975): Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024
de Sade, Donatien Alphonse François (1785): Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung. Orbis Verlag für Publizistik, München 1999
Salò o le 120 giornate di Sodoma
Italien, Frankreich 1975
Regie: Pier Paolo Pasolini
Drehbuch: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti, Pupi Avati
Musik: Ennio Morricone
Darsteller: Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Umberto Paolo Quintavalle, Aldo Valetti, Hélène Surgère u.a.
Laufzeit: 117 min.