Von Heiko Hanel mit Dank an Heike Kandulsky
Noch ganz eingelullt von diesem alptraumhaften frühen Höhepunkt des noch sehr jungen Jahres traf ich mich im Januar auf dem Rotterdamer Filmfestival mit den sehr gut aufgelegten Severin Fiala und Veronika Franz. Als Regisseure ihres zweiten Filmes nach dem großartigen aber grandios gefloppten KERN freuen sie sich über den regen Zuspruch und auch über teils emotionale Reaktionen auf ihr selbsternanntes Psychoterrorkammerspiel, das sie mit dem großen Kameramann Martin Gschlacht im österreichischen Waldviertel auf 35mm Filmmaterial gedreht haben und mit dem sie jetzt ihre Festivaltour bestreiten. Beide sind mit Genrefilmen aufgewachsen und teilen sich bei der gemeinsamen Arbeit alle Aufgaben. Kennengelernt haben sie sich als Severin auf die Kinder von Veronika Franz und Ulrich Seidl aufpasste. Sollten Diese auch mal einen Film drehen wollen, wäre ich der Erste, der ihnen Geld gibt.
Ist ICH SEH ICH SEH ein Genrefilm?
Veronika Franz: Bevor Du den Film in eine Schublade steckst: mein Lieblingsausdruck für den Film ist Psychoterrorkammerspiel.
Severin Fiala: Wir wollten nicht einfach einen Genrefilm drehen. Wir wollten eine Idee konsequent zu Ende verfolgen und einen Film machen, den wir selbst gerne im Kino sehen würden. Das ist uns mit ICH SEH ICH SEH gelungen. Wir hoffen natürlich, dass den auch noch jemand anders sehen möchte.
Könnt Ihr etwas zur Entstehung des Films erzählen?
Veronika Franz: Wir sind alle Kinder von Müttern. Insofern spricht die Ausgangssituation Jeden an. Es gibt diese Deutschen TV-Dokusoaps in denen sich Frauen operativ verschönern lassen. Zum Beispiel an den Zähnen oder dem Nasenbein. Dann kriegen sie neue Kleider und werden frisiert. Dafür werden sie Wochen, manchmal Monate von ihren Familien getrennt. Zum Finale der Serie wird dann die magische Wiedervereinigung fürs Fernsehen inszeniert. Die Väter warten mit den Kindern am Ende des roten Teppichs. Die Kinder sollten sich in diesem magischen Moment eigentlich freuen aber man sieht in ihren Gesichtern eine Mischung aus Erschrecken und Überraschung weil die Mutter so verändert ist. Erst danach fangen sie dann fernsehgerecht an zu lächeln. In einer der letzten Sendungen hat ein Mädchen ihren Vater am Ärmel gezupft und gesagt: „Das ist nicht die Mama!“ Wir dachten diese Situation konsequent weiter. Ganz viele Kinder kennen die Urangst, die eigene Mutter könnte jemand anders sein. In der Pubertät denkt man dann man wäre adoptiert weil man so anders als die Eltern ist. Ich habe als Kind mit meiner Mutter Erschrecken gespielt und sie imitierte dann ein Monster so gut, dass ich wirklich dachte, sie hätte sich verwandelt. Ich war so erschrocken über diesen Verlust meines innigsten Vertrauensverhältnisses.
Jetzt wohnen die Kinder noch in einem Umfeld, wo sie der Mutter total ausgeliefert sind.
Severin Fiala: Die Abgeschiedenheit und völlige Abwesenheit von normaler Zivilisation war wichtig um den Konflikt zu intensivieren. Es gibt weder eine Normalität noch eine Außenwelt an die man sich wenden kann. Man sieht nur die Welt der Kinder, deren Blick auf die Welt und das Herumgleiten in der Natur. Die Kinder und der Zuschauer nehmen diese Welt als Traum oder vielleicht Albtraum wahr. Und gleichzeitig sieht man auch die relativ nüchterne, rationale und kontrollierte Sicht der Mutter auf die Welt. Und beide Ansichten vertragen sich nicht. Dieser Konflikt löst dann etwas Großes und Tragisches aus.
Ich hätte mir am Anfang etwas mehr Ambivalenz gegenüber der Mutter gewünscht weil die schon ziemlich schlimme Sachen macht.
Veronika Franz: Aber das bedingt die Kinderperspektive. Du kannst sie nicht ambivalenter darstellen, weil sie aus der Sicht der Kinder gezeigt ist. Die Zwillinge sehen eine Frau die plötzlich auftaucht, anders ausschaut und sich anders verhält als die Beiden es gewohnt sind oder anders als sie es wollen. Insofern war die Darstellung der Mutter in der ersten Hälfte ein schwieriger Akt. Retrospektiv kann man den ganzen Film natürlich anders lesen. Insofern entwickelt man dann hoffentlich auch Verständnis für die Mutter. Einigen Zuschauern gefiel der Film beim zweiten Mal besser weil sie die Tragödie dann besser verstanden und mehr Empathie für diese Frau hatten. Aber der Zuschauer soll eben erstmal mit den Kindern mitleiden und sich vor dieser unheimlichen Gestalt fürchten.
Ich frage mich, ob man eurer Erzählung als Zuschauer glauben darf. Ihr behauptet, Ihr liefert die Interpretation der Kinder aber man sieht ja trotzdem wie die Mutter schlimme Sachen mit der Katze und den Schaben der Kinder macht. Damit macht Ihr das Geschehen für den Zuschauer doch eindeutig.
Veronika Franz: Nein, man sieht es eben nicht. Das hast nur Du gesehen!
Oh, dann funktioniert die Suggestion wirklich großartig.
Veronika Franz: Wenn Zuschauer uns erzählen, was sie alles gesehen haben schauen wir uns oft an und sagen: das kommt gar nicht vor! Filme spielen im besten Fall im eigenen Kopf. Insofern sieht dann auch jeder einen Anderen. Das ist ja auch unser Thema. Ich seh ich seh immer ganz was Anderes als der Andere.
Das ist interessant. Ich bin überzeugt, die Szene gesehen zu haben. Also entweder ihr lügt mich an oder der Film ist noch mal viel besser als ich ihn in Erinnerung habe.
Severin Fiala: Nein, wir lügen nie. Wir spielen nur. Der Film spielt mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen. Durch die Änderung der Perspektive wird einem die Fragwürdigkeit des Gesehen bewusster. Aber das sind Mechanismen mit denen jeder Film operiert.
Ich fühlte mich an den Roman DAS GROSSE HEFT von Agota Kristof erinnert. Da versuchen Zwillinge in schlechten Zeiten jeden Schmerz auszublenden um sich nur auf ihre Zweisamkeit zu konzentrieren. War das ein Einfluss?
Severin Fiala: Wir kennen und lieben beide dieses Buch. Aber wir kennen und lieben auch zahllose Horrorfilme. Es ist jetzt unmöglich, Einen als Vorbild rauszugreifen. Man ist immer überzeugt, die eigenen Ideen seien etwas ganz Persönliches. Die Dinge, die man gelesen oder gesehen hat, stellen aber immer einen bewussten oder unbewussten Einfluss dar. Wir haben aber nie bewusst Elemente aus Büchern oder Filmen übernommen.
Lukas und Elias Schwarz sind nicht nur unglaublich präsent und charismatisch sondern auch in jeder Einstellung zu sehen. Wo habt Ihr die gefunden?
Veronika Franz: Zwillinge zu casten, ist gar nicht so schwierig. Jeder Schuldirektor weiß, ob er Zwillinge an seiner Schule hat oder nicht. Wir haben insgesamt 125 Zwillingspaare, Buben zwischen 9 und 11 gefunden. Es war dann nur die Frage, ob Jemand gut genug ist. Am Ende hatten wir 3 Paare, die wir alle sehr mochten. In der letzten Castingrunde sollten sie die Mutter ein bisschen piesacken. Wir fesselten die Hauptdarstellerin an einen Sessel und sagten: Diese Frau hat eure Mutter entführt und jetzt versucht herauszufinden wo sie ist. Ihr könnt auch ein bisschen übergriffig werden. Zwei Paare kreisten nur um den Sessel herum und sagten immer: “Wo ist unsere Mutter, wo ist unsere Mutter?“ Elias und Lukas waren die Mutigsten und nahmen einen Bleistift mit dem sie so ein Bisschen rumgepiekst haben. Außerdem sind sie sehr fragil, sehr schön, sehr zart und können dann aber auch so was Abgründiges und Kaltes haben. Diese Gegensätzlichkeit hat uns interessiert. Außerdem sind sie wahnsinnig intelligent und ehrgeizig. Das weiß man ja vorher nicht. Wir arbeiteten sehr spielerisch mit ihnen. Sie kannten nicht die ganze Geschichte. Wir gaben ihnen jeden Tag nur die Ausgangssituation und ein paar Informationen. Dann drehten wir chronologisch. Das war möglich, weil wir den Ort nicht wechselten. Für die Beiden war das wie eine Detektivgeschichte. Ist das jetzt unsere Mutter oder nicht? Was passiert als Nächstes? Sie haben auch versucht, das Team auszufragen und wir hatten alle Hände voll zu tun, dass keiner was verrät? Die Kinder haben übrigens bis heute den Film nicht gesehen. Sie sind jetzt fast 13 Jahre alt und dürfen den Film nur ungefähr bis zur Hälfte sehen. Wir haben ihnen versprochen, dass sie zum 15. Geburtstag die DVD bekommen. Filme machen und anschauen ist ein Unterschied. Die Zwillinge haben die Dreharbeiten als Spiel erlebt und sagen immer noch, es war der schönste Sommer ihres Lebens. Gewalttätigere Szenen laufen oft sehr diszipliniert und technisch ab. Als Regisseur hat man dann Mühe, noch eine Emotion zu erzeugen wenn jemand zum siebten Mal auf eine Blutkapsel beißt. Für Kinder ist das nicht beängstigend. Die Beiden glaubten sowieso, wir machen einen ur-langweiligen Film und waren dann relativ überrascht als sie die erste Stunde beim Anschauen gar nicht so langweilig fanden.
Die Gewalt kommt erst am Ende. Hattet Ihr Sorgen um die Reaktion der Zuschauer? Genrefans könnten sich am Anfang langweilen und das Arthouse-Publikum kommt dann am Ende traumatisiert aus dem Kino weil es nicht gewarnt wurde.
Veronika Franz: Wir glauben, das Publikum ist intelligenter ist als man es unterstellt und wir haben die Erfahrung gemacht, das der Film ganz gut funktioniert. Es kann sein, dass es eben für Genre-Zuschauer ein bisschen dauert bis der Film in die Gänge kommt und es kann sein, dass es für Arthouse-Zuschauer am Ende zu heftig wird. Dass jemand den Film von vorn bis hinten langweilig fand, haben wir noch nicht gehört. Und der gelegentliche klassische Arthouse-Zuschauer kann schon mal etwas vom Finale angegriffen werden. Der taumelt dann aber auch nicht betäubt aus dem Kino heraus sondern ist zornig, dass es so einen Film überhaupt gibt. Und das ist mehr als viele andere Filme momentan erreichen. Wir finden es schön, wenn sich die Leute mit unserem Film auseinandersetzen. Ein Genrefestivalmacher kam zu uns und sagte, dass er schon lange nicht mehr erlebt hat, dass Leute richtig aufschreien im Kino. Das Genre-Publikum lacht ja meist, wenn irgendein Arm abgesägt wird. Das ist bei unserem Film sowieso nicht der Fall. Aber dass eine Frau „nein bitte nicht“ schreit, zeigt die Kraft des Kinos. Bei den Lumiere-Brüdern sind die Leute ja angeblich auch vor Angst aus dem Kino gelaufen weil auf der Leinwand ein Zug einfuhr.
Erzählt doch mal was zu diesem Wald, dem Haus und dem See. Existiert das Haus wirklich?
Severin Fiala: Das Haus steht abgeschieden im nördlichen Waldviertel und liegt neben dem See. Das Waldviertel ist sehr schön und hat diese verträumten, märchenhaften Wälder. Wir haben das Haus aber komplett neu eingerichtet. Nach unseren Vorgaben wurden Zwischenwände eingezogen und Badezimmer und Schlafzimmer verlegt, um den dramaturgischen Voraussetzungen der Geschichte gerecht zu werden. Das umliegende Maisfeld war vorher nicht da und wir mussten es pflanzen. Es ist eine Mischung aus einer realen Umgebung und zugefügten Dingen. Die Besitzer des Hauses waren nur an einem Drehtag vor Ort, an dem sie sich sehr über eine simulierte Beschädigung ihres Eigentums gewundert haben. Vom Produzenten Ulrich Seidl haben sie dann Schnaps zur Beruhigung bekommen. Beim Film ist immer verblüffend, wie viel Arbeit in Dinge gesteckt wird, die man nicht bemerken soll. Der Zuschauer bemerkt zum Beispiel nicht, dass Teile der Inneneinrichtung in der letzten Szene nachgebaut wurden. Da haben Leute wochenlang daran gearbeitet, dass man etwas NICHT sieht. Das ist vielleicht auch frustrierend.
Ich weiss nicht, ob es mich beruhigen würde, wenn mir Ulrich Seidl einen Schnaps anbietet, während er in meinem Haus einen Film dreht. Das Maisfeld vorm Haus erinnert an CHILDREN OF THE CORN.
Severin Fiala: Natürlich lieben wir CHILDREN OF THE CORN Sowohl der Film als auch das Spielen mit meinem Bruder im Maisfeld sind Kindheitserinnerungen.
Veronika Franz: Der Drehort ist für ein Maisfeld eigentlich zu hoch gelegen. Hätten wir Kunstdünger verwendet, hätte der Biobauer und Feldbesitzer seine EU-Förderung für 7 Jahre verloren. Also mussten wir Biomais anbauen und hoffen, dass er wächst. Weil der Mais am Anfang der Dreharbeiten nur 10 cm hoch war, konnten wir draußen nicht chronologisch drehen. Wir hatten aber Glück und den heißesten Sommer der letzten 30 Jahre. Überall waren die Maisfelder verdorrt und nur in unserer Höhenlage waren sie total grün und saftig. Sonst hätten wir Maispflanzen im Burgenland ausreissen und im Waldviertel wieder einpflanzen müssen. Die Nähe des Feldes zum Haus war uns total wichtig.
Das ist der erste Genre-Film der Ulrich Seidl-Produktion, oder?
Veronika Franz: Das ist die erste Seidl-Produktion bei der Ulrich Seidl nicht selbst Regie geführt hat. Wir haben das Drehbuch geschrieben und es ihm dann gegeben. Er war angetan wollte es dann produzieren.
Hat Ulrich Seidl einen Bezug zu Genre-Filmen? Ich kann es mir nicht so richtig vorstellen.
Veronika Franz: Nein, aber Ulrich Seidl hat einen Bezug zu Bildern. An den Filmen interessiert ihn oft die Geschichte überhaupt nicht. Aber es interessiert ihn, welche Bilder von wem erzählen. Nachdem das Drehbuch sehr visuell geschrieben war, konnte er sich seine eigenen Bilder machen. Es waren wahrscheinlich andere Bilder als Unsere aber er will ja auch nicht, dass unsere Filme seinen ähneln. Er zwingt einen, darüber nachzudenken was man selber will und entsprechend zu arbeiten. Man kann von ihm lernen, nicht aufzuhören bis man weiß was man will und das dann durchzusetzen.
Severin Fiala: Man stellt sich immer vor, ein Regisseur redet mit den Schauspielern und klärt mit dem Kameramann, wie alles ausschauen soll. In Wirklichkeit muss man sich aber um so viel mehr kümmern. Bis hin zu völlig stumpfsinnigen Tätigkeiten, die man aber mit der gleichen Energie vorleben muss, damit das Team weiß wie ernst man es meint. Zum Beispiel spielt im Film eine Nagelschere eine wichtige Rolle. Unsere großartige Requisiteurin kommt dann mit einem Schuhkarton voller verschiedener Nagelscheren. Und dann setzt man sich hin und schaut sich jede einzelne Nagelschere an um zu entscheiden, welche am Besten passt. Man muss sich um ganz viele bürokratische oder auch organisatorische Dinge kümmern und versuchen, alle mit der gleichen Energie und Ernsthaftigkeit zu erledigen. Wenn ich sage würde, dass mich irgendetwas davon nicht interessiert, degradiere ich die dafür Zuständigen.
Veronika Franz: Die Ausstatter haben gestöhnt weil es sehr viel Arbeit war, dieses große Haus mit den hohen Räumen einzurichten. Wir haben viel mitgearbeitet. Als sie dann den Film bei der Premiere gesehen haben, verstanden sie warum das so wichtig war. Das war dann ein Kompliment für uns weil es für unsere Mitarbeiter einer der anstrengendsten Filme war, den sie je gemacht haben.
Was mich sehr beeindruckt hat, waren diese unscharfen Fotografien von Frauen an den Wänden. Ich dachte mir die ganze Zeit, dass auf den Bildern mal die alte Mutter zu sehen war. Man kann sie nicht mehr erkennen und jetzt tritt die neue Mutter ins reale Leben.
Veronika Franz: Schöne Interpretation.
Severin Fiala: Wir wollten mit der Ausstattung etwas über das Milieu der Mutter erzählen, die eine Fernsehmoderatorin ist und im Idealfall auch noch etwas über ihre Person aussagen. Deshalb diese Unschärfe. Man ist sich nicht sicher ob sie das wirklich ist. In Wirklichkeit ist das ein Bild der österreichischen Künstlerin Eva Schlegel, die Leute unscharf fotografiert. Wir haben sie bei unserer Recherche entdeckt. Sie fotografiert unter Anderem Fernsehmoderatorinnen genau so und die hängen sich die Bilder dann zu Hause auf. Das war für uns ein perfektes Bild. Einerseits passt es zu einer Moderatorin, andererseits erzählt es etwas über die nicht zu greifende Identität der Mutter.
Habt ihr schon ein neues Projekt?
Severin Fiala: Je länger unsere Festivaltour dauert, desto mehr Projekte kommen ins Spiel. Als wir losfuhren, hatten wir zwei neue Projekte, jetzt sind es Drei. Das nächste ist wahrscheinlich ein Historienfilm aus dem 18. Jahrhundert, wo es um Kindsmörderinnen und Henker geht und es wieder recht grauselig und brutal zugehen wird.
Noch eine Frage, die ich Ulrich Seidl vor einem Jahr auch gestellt habe. Warum ist die Mehrheit der österreichischen Filme so toll und die Mehrheit der deutschen so blöd?
Veronika Franz: Die Förderlandschaft unterscheidet sich. Bei uns gibt es eine Kunst- oder Kulturförderung und keine kommerziell orientierte Förderung. Auch in Österreich muss man natürlich politisch argumentieren wenn man Filme fördert. Daher ist die Förderung von kommerzielleren Filmen immer ein Balanceakt. Man hat aber grundsätzlich die Freiheit, seinen Film zu machen. Deutsche Kollegen meinten, dass ICH SEH ICH SEH in Deutschland wohl nicht förderbar gewesen wäre. Das kann ich nicht beurteilen. Wir haben es auch nicht versucht. Ulrich Seidls Filme wurden von deutschen Förderungen teilweise auch abgelehnt. Nordrhein-Westfalen hat die Paradies-Trilogie dreimal als zu sexistisch abgelehnt. Sie haben aber Lars von Triers ANTICHRIST gefördert. Der soll dann nicht sexistisch sein. Da sitzen dann wohl Dramaturginnen, die den Stoff lesen und in solchen Termini denken. Das gibt es in Österreich nicht. Der Nachteil an der österreichischen Förderung ist, dass das Land sehr klein ist und die eigenen Kollegen über dich richten. Da sitzen dann die Regisseure, Drehbuchautoren und Produzenten und urteilen übereinander, was in so einer kleinen Produktionslandschaft natürlich schwierig ist. Natürlich beeinflussen Lobbies, Freundschaften oder auch Feindschaften und die Entscheidungen. Ich war ja früher Filmkritikerin und dann saß ich beim Hearing einer Filmregisseurin gegenüber, deren letzte zwei Filme ich ordentlich verrissen hatte. Man muss aber sagen, dass sie sehr fair war.
Vielleicht ist es gut, dass in Euren Gremien Künstler sitzen und nicht nur Bürokraten und Fernsehleute. Aus politischer Sicht müssen die vielleicht immer Nein rufen wenn der Sexismusverdacht aufkommt. Andererseits regen sich die Österreicher doch auch deutlich mehr über grenzüberschreitende Kunst auf als die Deutschen. Und trotz all der Skandale entstehen bei Euch viel provokantere Filme als bei uns.
Veronika Franz: Ja, mag sein. Bei uns ist hat das österreichische Fernsehen allerdings auch immer eine Stimme in diesen Gremien. Aber vielleicht sitzen da auch kluge Leute. Ich weiss es nicht. Ich glaube nicht, dass die Österreicher per se talentierter sind als die Deutschen.
Ich schon.
Veronika Franz: Vielleicht sind wir neurotischer.
Severin Fiala: Erotischer oder neurotischer?
Veronika Franz: Beides.
Severin Fiala: Beides wahrscheinlich.
Veronika Franz: Wir sind halt das Land von Sigmund Freud. Wir waren mal eine große Nation, die dann sehr klein geworden ist. Mit all den damit verbundenen Minderwertigkeitskomplexen. Österreich hat sich fast 50 Jahre lang als erstes Opfer von Hitler hingestellt, ohne dass jemand mal aufgestanden wäre, um diese Fehleinschätzung zu korrigieren. Wir waren Täter und es ist kaum zu glauben, über was in diesem Land alles nicht gesprochen wird. Es hat bis in die Neunziger Jahre gedauert bis Bundeskanzler Kreisky im Parlament ausgesprochen hat, dass wir Täter und nicht Opfer waren. Da brodelt noch so Einiges unter der Oberfläche. Am Besten ich zieh weg.
Severin Fiala: Oder wir machen noch 100 Jahre lang Filme darüber.
Ich wollte gerade sagen: macht doch lieber noch mehr Filme darüber. Dann finde ich das Brodeln völlig in Ordnung.
Veronika Franz: Das war für uns auch übrigens eines der Symbole im Film. Die Schaben sind für uns das, was unter der Oberfläche brodelt. Schaben sind tatsächlich überall. Das haben die von uns engagierten Schabenexperten gesagt. Sie sind auch in jeder 4 oder 5 Sterne-Küche. Wenn man weiß wo man sie findet, findet man sie. Wir leben mit Schaben, aber wir sehen sie nicht. Sie wohnen nämlich unter den ganzen cleanen Oberflächen, die wir uns bauen. Deswegen war das für unseren Film auch so ein Symbol. Man schneidet etwas auf und schaut drunter und da sind Schaben.
Ein schönes und allgemeingültiges Schlusswort. Vielen Dank für das Interview.