Von Heinz-Jürgen Köhler
Sie ist IT-Spezialistin in einem kleinen Unternehmen, hat wenig Kontakt mit ihren Kollegen, aber einen guten Draht zu ihrem Chef. Manchmal skypt sie mit ihrer Schwester, sonst ist sie viel alleine. Sie lebt am Rande einer großen Parkanlage in Halle/Saale.
Er lebt allein, in einer großen Parkanlage in Halle/Saale.
Als sie ihn zum ersten Mal sieht, verliebt sie sich sofort. Sie setzt Himmel und Erde in Bewegung, um ihn wiederzusehen und ihn für sich zu gewinnen. Und nachdem sie etliche Hürden überwunden hat, werden sie tatsächlich ein Paar.
Sie ist Ania (Lilith Stangenberg), er ein Wolf.
Wölfe sind im Kino hauptsächlich bedrohliche Kreaturen. Mal stehen sie für die gefährliche Wildnis (THE GREY – UNTER WÖLFEN), mal erscheinen sie ins Phantastische gewendet als Werwölfe (WOLF – DAS TIER IM MANNE). Drehbuchautorin und Regisseurin Nicolette Krebitz nimmt den Wolf als das, was er in der Realität ist: ein Wildtier, das inzwischen wieder näher an die menschlichen Siedlungen heranrückt.
Weil der Wolf ein wildes Tier ist, muss Protagonistin Ania einiges unternehmen, um seiner habhaft zu werden. Sie, die bisher so antriebslos und phlegmatisch erschien, entwickelt plötzlich phantasievolle Pläne und setzt sie in die Tat um. Trickreich fängt sie den Wolf, sperrt ihn in ein Zimmer ihrer Wohnung und baut dann tatsächlich eine Beziehung zu ihm auf. Hier erlaubt sich Krebitz’ Drehbuch einen leichten Dreh ins Phantastische und gesteht am Ende dieser wahrhaft phantastischen Liebe eine Zukunft zu. Die Macht der Liebe macht erst Ania Beine und überschreitet dann Grenzen.
Neben Beiträgen zu zwei Episodenfilmen drehte Schauspielerin Nicolette Krebitz zuvor zwei Spielfilme: das Generationenporträt JEANS (2001) und das Beziehungsdrama DAS HERZ IST EIN DUNKLER WALD (2007). Mit WILD legt sie einen verblüffenden Film vor, der in seiner Radikalität an tabuverletzende Underground-Filme erinnert (wiewohl er von WDR und Arte koproduziert ist). Krebitz nimmt ihre extreme Geschichte ernst, buchstabiert sie konsequent durch und versagt sich glücklicherweise alle Ausflüge ins Parabelhafte. Der Mensch des Menschen Wolf, Raubtierkapitalismus – solche naheliegenden Überhöhungen lässt sie aus. Diese Liebesgeschichte ist eine Liebesgeschichte – Punkt.
Dass diese verblüffende Erzählung so gut funktioniert, ist nicht zuletzt der grandiosen Hauptdarstellerin zu verdanken. Lilith Stangenberg – Ensemblemitglied in der Volksbühne Berlin und schon in einer Hauptrolle in DIE LÜGEN DER SIEGER (2013/14) zu sehen – macht die Wandlung der Protagonistin glaubhaft: Ania, die bisher immer allein für sich war und irgendwie ziellos vor sich hinlebte, wird zu einer Powerfrau mit Einfallsreichtum und einem Ziel und entdeckt schließlich auch das Animalische in sich.
Und wenn sich in der Schlusseinstellung dieses kuriose, wunderbare Paar in eine gemeinsame Zukunft aufmacht, zeigt das sinnbildlich, dass hier ein mutiger Film der Kraft seiner Geschichte vertraut. Wer dem deutschen Film vorwirft, zu brav und mutlos zu sein, der hat WILD nicht gesehen.
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Wild, Deutschland 2016 | Regie und Buch: Nicolette Krebitz, Kamera: Reinhold Vorschneider | Mit Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender | Laufzeit: 90 Min. | Verleih: Heimatfilm (Kinostart 14.4.16)