Rotterdam im Januar. Nach einer ausverkauften und bejubelten Vorstellung von LET THE CORPSES TAN stellt sich das Ehepaar Hélène Cattet und Bruno Forzani dem begeisterten Publikum. Angesichts der formalen Strenge ihrer beunruhigenden Filme überrascht der geradezu jugendliche Eindruck, den die beiden auf der Bühne machen. Von dem Rummel um ihre Person scheinen sie etwas peinlich berührt zu sein und schieben sich die Beantwortung der Fragen kichernd gegenseitig zu. Die Schauspielerin Elina Löwensohn steht mit auf der Bühne und beschreibt akribisch durchkomponierte Einstellungen, die schauspielerische Improvisationen radikal verhindern. Was sie selbst super findet, viele Schauspieler aber eher nicht. Eine Stunde vor seiner Abfahrt nach Brüssel treffen wir uns mit einem entspannt freundlichen Bruno Forzani auf einen Kaffee.
Wie kam es nach AMER und STRANGE COLOR OF MY BODY’S TEARS zu eurem neuen Film?
THE STRANGE COLOR OF MY BODY’S TEARS war sehr dunkel und wir drehten ihn in Brüssel. Wir wollten wieder einen helleren Film machen, so wie die zweite Hälfte von AMER. Wir wollten einen mediterranen Drehort und natürliches Sonnenlicht. Der Roman spielt an der Riviera, aber gefunden haben wir die Location dann auf Korsika. Der Dreh von STRANGE COLOR war sehr bedrückend und wir wollten das Vergnügen wieder etwas in den Vordergrund stellen.
LET THE CORPSES TAN basiert auf einem Roman von Jean-Patrick Manschette, der 1971 veröffentlicht wurde.
2005 haben wir das Buch zum ersten Mal gelesen. Hélène war damals Buchhändlerin und ich arbeitete als Filmvorführer. Wir hatten vorher schon ein paar Kurzfilme gedreht. Hélène entdeckte dann das Buch von Jean-Patrick Manchette und gab es mir zum Lesen für den Fall, dass wir mal einen Italowestern nach einer Literaturadaption drehen wollen. Die Beschreibung der Orte und der Zeit sind im Roman sehr filmisch angelegt. Außerdem ist der Roman sehr kurz. Man muss also keine endlosen Sequenzen wie zum Beispiel bei DA VINCI CODE drehen, um der Vorlage gerecht zu werden. Der Roman war damals eine kleine Revolution und wurde als Neo Noir bezeichnet, weil die Charaktere von der Handlung und nicht von der eigenen Psyche getrieben werden. Das ist bei POINT BLANK von John Boorman oder den Filmen von Seijun Suzuki ähnlich. Wir fühlten uns sehr wohl mit dem Roman, weil wir uns keine Vorgeschichte für die Charaktere ausdenken mussten. Die leben alle nur in der Gegenwart. Wir blieben nah am Roman. Sogar die Dialoge haben wir weitgehend so belassen. Das war eine neue Erfahrung für uns.
Eure Filme sind sehr kontrolliert. Arbeitet ihr mit Storyboards?
Ja, wir fertigen zu allen Filmen Storyboards an. An AMER und STRANGE COLOR haben wir jeweils 9 Monate gearbeitet. Das Storyboard ist quasi unser Drehbuch und jedes Einzelbild ist wie ein Wort, das zu einem Satz und dann zu einem ganzen Film wird. Am Set wird nicht improvisiert, weil wir durch die Vorbereitung genau wissen, wie die Einstellungen zusammenpassen. Die sehr komplexe Einstellung der flüssig goldenen Einschüsse wurde von uns nicht, wie vom Produzenten erwartet, mit mehreren Kameras gedreht, sondern immer mit Hilfe der Storyboards durch eine Veränderung der Kameraposition.
Elina Löwensohn hat erzählt, dass sie die eingeschränkten Freiheiten als Schauspielerin durchaus genießt. Geht das allen euren Schauspielern so?
Wir erklären den Schauspielern vorher immer ganz genau, wie wir arbeiten. Manchmal gibt es am Set aber doch Diskussionen. Was aber auch passieren kann, ist, dass die Schauspieler sehr auf die Technik achten und vergessen zu schauspielern. Bei AMER und STRANGE COLOR ist das ein paar mal passiert, dass sich die Schauspieler wie Puppen fühlten. Diesmal weniger, aber die Schauspieler vertrauen uns bei unserem dritten Film auch mehr. Dabei spielten viel mehr mit als sonst.
Eure Filme sehen aus, als ob ihr euer ganzes Leben lang die Filme von Fulci, Argento und Leone auswendig gelernt habt.
Wir haben natürlich viele der Filme gesehen. Aber wir vergessen fast immer alles und entdecken das meiste immer wieder neu. Wenn wir drehen, versuchen wir gar nicht, Hommagen an bestimmte Szenen herzustellen, sondern die Stimmung der alten Filme einzufangen. Ich arbeite bei der Belgischen Cinemathek als B-Movie Programmierer und habe DEEP RED gezeigt, nachdem wir gerade AMER fertiggestellt hatten. Für mich war völlig überraschend, dass ganz viele Einstellungen fast identisch waren. Genau dasselbe bei LIZARD IN A WOMAN’S SKIN. Wenn das kleine Mädchen in diesem Zimmer eingesperrt ist und Florinda Bolkan vom Killer verfolgt wird: Die Kameraeinstellung und der Schnitt sind fast der gleiche wie bei uns. Diese Einstellung aus LIZARD hatten wir aber schon längst vergessen. Das Geheimnis liegt in der Inszenierung der alten Filme und wir wollen diesen Subtext hinkriegen, ohne zu kopieren.
Vor zwei Jahren durfte euer Kameramann Manuel Dacosse für EVOLUTION mit Lucille Hadzihalovic nach Lanzarote fahren und jetzt mit euch nach Korsika. Er hat bisher jeden eurer Spielfilme und auch ein paar der Kurzfilme fotografiert.
2001 wollten Hélène und ich unseren zweiten Kurzfilm CHAMBRE JAUNE drehen, der 2003 in Rotterdam gezeigt wurde. Wir machten gerade einen Kurs und sind Samstag Morgen zum Metzger gegangen, um Wurst zu kaufen und haben ihn da kennengelernt. Ein Freund hatte ihm erzählt, dass wir einen Kurzfilm drehen wollten und und er bot uns an, mitzumachen. Wir drehten digital, was nicht nur für uns neu war, weil gerade der Wechsel von analog zu digital stattfand. Kameraleute kannten sich damit gar nicht aus, weil alle mit analogem Filmmaterial gelernt hatten. Wenn du für Zelluloid ausleuchtest und dann digital drehst, brennt es dir förmlich die Netzhaut weg. Manuel war einer der ersten, der sich mit der neuen Technik auskannte. Bei CHAMBRE JAUNE hatten wir dann größere Auseinandersetzungen mit ihm, weil er Giallos nicht kannte und das für altmodischen Kitsch hielt. Er verstand auch nicht, dass wir reine Farben einsetzen wollten. Wenn wir Rot wollten, stellte er immer noch eine gelbe Lampe auf, um den Effekt etwas abzuschwächen. Wir stritten uns dauernd, auch wenn er am Ende sagte: „Ich verstehe Euch zwar nicht, aber ich mache, was ihr sagt.“ Das war keine schöne Zusammenarbeit. Bei unserem dritten gemeinsamen Kurzfilm L’ÉTRANGE POTRAIT DE LA DAME EN JAUNE erreichten die Streitereien ihren Höhepunkt, so dass er uns nach der vierten Zusammenarbeit SANTOS PALACE verlassen wollte. Während wir alle vorherigen Kurzfilme selbst produziert haben, hatten wir bei SANTOS PALACE zum ersten Mal einen Produzenten. Der arbeitete aber die ganze Zeit gegen uns, weil er sich nicht vorstellen konnte, 180 Einstellungen in 6 Tagen zu drehen. Und dieser Druck schweisste Manuel, Hélène und mich dann zu einer richtigen Familie zusammen, weil wir beweisen wollten, dass wir das schaffen können. Seitdem sind wir ein Team und streiten gar nicht mehr. Nach AMER waren ein paar Mitarbeiter von Technicolor schwer von Manuels Arbeit beeindruckt. Das war dann der Beginn seiner Karriere. Seitdem hat er bewiesen, dass er organisatorisch der Zidane der Kamera ist. Er blieb uns treu, hat aber auch mit Lucille Hadzihalovic, Fabrice Du Wels, Francois Ozon und Helene Hegemann gearbeitet.
Wie arbeitest du mit deiner Frau zusammen? Habt ihr unterschiedliche Aufgabenbereiche?
Normalerweise machen wir alles immer zusammen. Diesmal war der Drehort aber so weitläufig, dass einer von uns an der Kamera und einer bei den Schauspielern blieb. AMER und STRANGE COLOR spielen in eher engen Räumen. Da konnten wir zu zweit gleichzeitig mit den Schauspielern und dem Rest des Teams sprechen. Unsere Arbeitsteilung besteht darin, dass ich möglichst viele Takes drehen möchte, aber dabei etwas nachlässig werde, während Hélène sehr präzise ist und das auch sehr energisch durchsetzt. Würde ich alleine arbeiten, würde ich ziemlich schnell Filme machen, die nicht sehr gut wären. Und Hélène würde wegen ihres Perfektionismus einen Film gar nicht erst fertigstellen. Wir hatten 40 Drehtage für LET THE CORPSES TAN. Nachdem wir eine kleine Tochter bekommen haben, brachte Hélène sicher auch noch etwas Mütterliches in den Film ein.
Ist es schwierig, eure Filme zu finanzieren?
Eigentlich nicht. AMER war in kleinem Rahmen recht erfolgreich und STRANGE COLOR auch. Bei CORPSES kam noch dazu, dass es eine Romanverfilmung ist. Jean-Patrick Manchette ist sehr berühmt in Frankreich und Tardi hat drei sehr freie Comicadaptionen gemacht, die auch sehr erfolgreich waren. Das hat die Finanzierung diesmal noch weiter erleichtert. Das Problem war eher, dass wir trotz vorhandenen Geldes noch keinen Drehort gefunden hatten. Da die Location aber der Protagonist des Films ist und 90 Minuten lang zu sehen ist, hätten wir ohne nicht weitermachen können. Wir haben ein Jahr gesucht und haben uns letztlich entschlossen, vom Roman abzuweichen. Dort ist die Gegend als sehr grau und eintönig beschrieben. In einem korsischen Dorf aus dem 14. Jahrhundert haben wir dann diese intensiven Farben mit dem Meer als Kontrast gefunden. Wir passten dann unsere Storyboards an das gefundene Set an. Letztlich war das dann auch billiger als Kulissen zu bauen. Einzig das Haus von Luce mussten wir zum Teil nachbauen wegen Einsturzgefahr des Originals.
Was macht ihr als nächstes?
Wir haben zwei neue Projekte. Ein Pink Anime in Japan und den dritten Teil von AMER und STRANGE COLOR. Weil die Vorbereitung eines Animationsfilms sehr lange dauert, entwickeln wir beide Projekte parallel. Für den Anime wurden wir von einem US-Produzenten kontaktiert, der die Rechte an einem Roman einer japanischen Autorin aus den 50ern erworben hat. Da der ziemlich viel Sex enthält, hielten wir den Animationsfilm für ein gutes Medium, da man damit auch in Körper eindringen kann. So ein bisschen wie bei BELLADONNA OF SADNESS. Wir schreiben jetzt erstmal das Drehbuch. Dann müssen wir wie bei einem Casting Charakter- und Setdesigner finden. Das Problem ist, dass man für Dinge, die bei einem Realfilm von einer Person erledigt werden, bei Animationsfilmen zehn Leute braucht, weshalb der Castingprozess so langwierig ausfällt. Wir sind aber optimistisch, weil wir ein japanisches Studio gefunden haben.