Hänsel und Gretel verliefen sich im Großstadtdschungel.

Karl Spiehs – von Brancheninsidern oft „da Koarli“ geheißen – hatte sich mit LISA-Film auf ein allseits bewährtes Rezept verlegt, mit dessen Variationen er über Jahrzehnte die Kinos füllte. Man nehme Schlagermusik, derbe Komik und knisternde Erotik und variiere diese Zutaten je nach Jahrzehnt, je nach Geschmack – was Erfolg hatte, stand im Vordergrund und bestimmte den Grundton seiner Produktionen. Doch ab und zu kamen unterschwellig Filme aus dem Hause LISA, die einen ganz anderen Stil anschlugen. Sei es in den 1960er Jahren ambitionierte Krimis wie MAIGRET UND SEIN GRÖSSTER FALL (1966) oder der Sleaze-Actioner DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN (1967), in den 1970er Jahren Meisterwerke wie BLUTIGER FREITAG (1972) oder die filigrane Romanadaption JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN (1976). Bei aller Routine wusste „da Koarli“ also immer zu überraschen.

Doch im Morgengrauen der 1980er Jahren überflügelten diese „Ausnahmen“ plötzlich kurzzeitig die übliche LISA-Ware, in Ko-Produktion entstanden einige denkwürdige Streifen. DIE SCHULMÄDCHEN VOM TREFFPUNKT ZOO (1979) machten den Anfang; Spiehs reagierte hier prompt auf den sensationellen Bucherfolg um Christiane F. und cashte schon zwei Jahre vor Uli Edels Verfilmung einmal ab, eine Zelluloidblendgranate wie ASTARON – BRUT DES SCHRECKENS (1980) ließ keine Blumen sprechen, dafür aber höchst extraterrestrische Gallateier wüten. Mit JUNGFRAU UNTER KANNIBALEN (1980), SADOMANIA – HÖLLE DER LUST (1981), DIE SÄGE DES TODES (1981) und DIE NACKTEN SUPERHEXEN VOM RIO AMORE (1981) schloss sich gar eine Quartett von schmal budgetierten, aber deftig reißerischen Plotten des Kultfilmers Jess Franco an.

Zwischen all dem Kladderadatsch lag bei LISA-Film auch noch ein Drehbuch herum, anhand dessen sich trefflich ein hemdsärmeliger Reißer über die Frankfurter Unterwelt entspinnen konnte. Der Drehstab war zu großen Teilen verpflichtet, die Pre-Production lief sich bereits warm – nur einen Regisseur hatte man nicht parat. Da rief „da Koarli“ bei niemand geringerem als Roger Fritz an, dessen letzte Filmregie bereits lange zurücklag. Fritz machte beim Skript Tabula Rasa, schrieb die Geschichte zu großen Teilen komplett um und betonte die szenische Ventilierung einer Gesellschaftsdarstellung. Anstatt eine Subkultur kassenwirksam auszubeuten, ließ er den Figuren ihre Würde, machte keinen Film über, sondern für sie. Außerdem brachte Fritz vor und hinter der Kamera viele seiner Freunde aus der Münchner Szene unter, womit sich FRANKFURT KAISERSTRASSE von einem LISA-Film endgültig zu einem Fritz-Film emanzipierte.

Im Grunde gerät die Geschichte um die beiden Hauptcharaktere – Susanne (Michaela Karger) und Rolf (Dave Balko) – zu einem modernen Märchen. Was sich nach dem Vorspann des Tivoli-Filmverleihs und seinen schmissigen Klängen aus Tschaikowskys „Nussknacker-Suite“ entspinnt, ist eine Charakterstudie zweier Liebender, die es auf unterschiedlichen Pfaden aus einer verschlafenen Kleinstadt in die Bankenmetropole verschlägt. Während sie im Mief der tradierten Strukturen daheim für ihre Liebe viel Ungemach von den Verwandten erfahren, ist die Großstadt offenherziger – hier weht frischer Wind, der sich jedoch schnell zur steifen Brise auswächst. Während Rolf seinen Grundwehrdienst ableistet und der Kasernierung nur auf Kurzurlaub entgehen kann, wird die naive Susanne mit der rauen Wirklichkeit der Luden und Zuhälter konfrontiert. Ihr Onkel, ein herzensguter Blumenhändler (Kurt Raab) und dessen Lebenspartner (Gene Reed), kann sie vor den Machenschaften des Mädchenfressers Johnny (Hanno Pöschl) nicht bewahren. Als schließlich auch noch ein Bandenkrieg ins Haus steht und die Liebe zwischen Susanne und Rolf auf eine harte Bewährungsprobe gestellt wird, blasen die Pistolen, Go-Go-Girls und Stabsrekruten schließlich zum großen Zapfenstreich.

„Was soll der altdeutsche Stuss?“ dröhnt es irgendwann durch die Kaiserstraße, so könnte man auch das Mantra Roger Fritz‘ deuten. Er, der für MÄDCHEN MIT GEWALT (1969) einst und heute zurecht Beifall einheimst, inszenierte mit FRANKFURT KAISERSTRASSE einen unprätentiösen Reißer, der gleichzeitig die Charakterzeichnungen ernst nimmt und sich außerdem einen elitenkritischen Subtext leistet, der den geneigten Filmfreund an italienische Elaborate eines Fernando di Leo denken lässt – die wahren Strippenzieher bewohnen die verglasten Hochhäuser der Mainmetropole, Fassbinder meets German Pulp. Dabei sind die Außenaufnahmen munter zusammengewürfelt, neben dem mittelfränkischen Georgensgmünd und dem titelgebenden Bahnhofsviertel von „Mainhattan“, wurde auch im Münchner Norden und der dortigen Kirchenstraße, nahe des Johannisplatz‘ gedreht – kurzzeitig huscht sogar eine charakteristisch weißblaue U-Bahn durchs Bild. Sei’s drum, Fritz macht aus der zeigefreudigen Michaela Karger die leichtgläubig-naive „Unschuld vom Lande“, während Dave Balko – der in Carl Schenkels wunderbarem „Mad Max in West-Berlin“-Verschnitt KALT WIE EIS (1981) noch eine weitere Großrolle bewältigen würde – mit seinem etwas androgynen, so herrlich in der damaligen Zeit verhafteten Udo-Kier-Charme jedes Eis zum Schmelzen bringt. Kurt Raab persifliert sein Image und erhält von Fritz die Chance, den üblichen Schwulenklischees im damaligen Kino einen liebenswerten Kontrapunkt entgegen zu setzen – gedreht wurden seine Szenen übrigens großteils in der Wohnung von Barbara Valentin. Hanno Pöschl komplettiert mit Roy-Black-artiger Schmalzigkeit den Reigen, wobei auch er sich ans Revers heften kann, eine dankbare, weil vielschichtigere Rolle mit Leben erfüllen zu dürfen, als es im Publikumskino der Zeit en vogue war.

Im Rahmen der Edition Deutsche Vita (EDV) erschien FRANKFURT KAISERSTRASSE als zwölfter Eintrag, wobei die Blu-ray-/DVD-Combovariante auf 1000 Exemplare limitiert ist und den Breitwandfilm in hervorragender Qualität, mit deutschem und englischem Ton serviert. Von den Bonusmaterialien ganz zu schweigen: in der dreiviertelstündigen Podiumsdiskussion „Diagonale im Dialog“, aufgenommen 2019 in Graz, gibt Darsteller Hanno Pöschl im Gespräch mit Claus Philipp süffisant und im schönsten österreichischen Dialekt unverstellte Auskunft über seine weitreichende Karriere. Hinter „Frankfurt, der Lisa wegen“ verbirgt sich ein Interview mit Regisseur Roger Fritz, der über die schwierige Produktion berichtet, wie er nach und nach das ganze LISA-Team gegen seine Vertrauensmänner und -frauen austauschte und schließlich einen Teil seiner Gage nie gesehen hat – dass seine Brille das gefilmte Gespräch überhaupt überlebt hat, grenzt im Übrigen an ein Wunder. In „Alte Gefilde“ kehrt Hauptdarsteller Dave Balko schließlich zurück an seine jugendliche Wirkungsstätte „SO36“ – ein mittlerweile kultischer Veranstaltungsschuppen in Berlin-Kreuzberg – und schwelgt mit sympathischer Ehrlichkeit in seinen Erinnerungen als Musiker und Filmschauspieler. Neben dem deutschen und englischen Kinotrailer findet sich eine opulente Bildergalerie, der englische Vor- und Nachspann sowie eine Trailershow zu anderen bereits erschienenen und künftigen Einträgen in der EDV (DIE SPALTE, DIE BRUT DES BÖSEN, BLUTIGER FREITAG, MÄDCHEN MÄDCHEN und DEADLOCK). Abschließend lädt ein sechzehnseitiges Booklet von Filmemacher Gary Vanisian (Filmkollektiv Frankfurt) zu Erinnerungen ein, neben den bekannte Verpackungs- und Ausstattungsvarianten erschien übrigens auch noch eine stilvolle Limited Edition mit Nachdruck des Originaldrehbuchs im Hardcover (173 Seiten) und Fotoband über Dave Balko (36 Seiten).

„Auf unsere geliebte Bundeswehr“ – das tönt aus einer Kasernenstube, als noch nirgendwo von Bufdis die Rede war; der Korpsgeist in der Rekrutenkantine saß noch altdeutsch patent. Ganz anders Roger Fritz, der mit weltmännischer Lässigkeit dem deutschen Kino mit FRANKFURT KAISERSTRASSE ein großes Geschenk machte. „The Face Of A City“, wie der Film in der Exportvariante für den englischen Markt hieß, ist genau das: ein stimmungsvolles Zeitbild, dass als Mehrpersonendrama wie als Actionfilm funktioniert, sich zwischen alle Stühle setzt, zum Träumen einlädt und eine Zeit in Erinnerung ruft, als das Gerücht, Bielefeld gäbe es gar nicht, noch die größtmögliche Verschwörungstheorie war. Damals war’s – tausend Dank, Roger!

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Frankfurt Kaiserstraße | Deutschland 1981 | Regie: Roger Fritz | Darsteller: Michaela Karger, Dave Balko, Hanno Pöschl, Kurt Raab, Ute Zielinski, Gene Reed u.a.

Anbieter: Subkultur Entertainment