Und der Haifisch, der hat Szene…

Liebhaber des Trash-Kinos, also Fans von Filmen, die eigentlich keine Fans verdienen und durch ihre mehr oder weniger bewusst stümperhafte Umsetzung für Unterhaltung und Fremdscham sorgen, kommen an einem Ungetüm der Meere nicht vorbei: dem Hai. Mal kommt er als Wirbelsturm angerauscht wie in SHARKNADO, mal als mutiertes Mischwesen à la SHARKTOPUS und auch SANDSHARKS, SKY SHARKS, ein SUPERSHARK oder ein urzeitlicher DINOSHARK trieben bereits ihr Unwesen. Von schon im Titel urkomischen Ideen wie HAI-ALARM AM MÜGGELSEE oder BAIT – HAIE IM SUPERMARKT ganz zu schweigen. Ist ein Hai dabei, so scheint es, können Trashfilmproduzenten ihrem Publikum alles andrehen. Je hanebüchener, desto besser. Die Ursprünge der Hai-Manie liegen im Hollywood-Kino der 1970er – bei einem Film, der sich qualitativ so gar nicht in diese unrühmliche Reihe einfügt, von einem Regisseur, der wie kaum ein anderer Filmemacher Jahrzehnte lang das Populär-Kino mitgestaltete: DER WEISSE HAI, das erste große Meisterwerk von Steven Spielberg.

Der wollte den Film nach einer Romanvorlage von Peter Benchley eigentlich nicht übernehmen. Er befürchtete, die Produzenten Richard Zanuck und David Brown würden ihm einen B-Film andrehen, ein Werk zweiter Klasse. Spielberg aber fühlte sich der Kunst verpflichtet, schielte auf die anspruchsvollen und komplexen Filme seiner Kollegen Martin Scorsese und William Friedkin. In der Geschichte um einen Hai, der vor der Küste eines kleinen Urlaubsortes mehrere Menschen frisst, erkannte er kein großes Potenzial. Letztlich willigte er dennoch ein, nicht aber ohne konkrete Vorgaben: Er wollte die Hauptdarsteller aussuchen, setzte Roy Scheider für die Hauptrolle des Polizeichefs Martin Brody gegen die Produktionsstätte Universal durch, die den Kassenmagneten Charles Bronson favorisierte. Er verlangte, den Film auf offener See drehen zu dürfen, damals eine Pionierleistung. Und das Drehbuch ließ er stark überarbeiten – teils noch während des Drehs, zum Unmut des gesamten Filmteams.

Der Erfolg gibt ihm recht: Die ikonographische Wucht der meisterhaften Symbiose aus Tierhorror und Abenteuerfilm ist auch fast ein halbes Jahrhundert später noch greifbar, schon bei der brillanten Eröffnungsszene. Eine junge Frau wagt sich bei Morgengrauen ins Wasser. Plötzlich zerrt etwas an ihr, sie schreit panisch auf, ihr Oberkörper tänzelt ruckartig den Horizont entlang, selbst das Festklammern an einer Boje hilft nicht. Als sie untergeht, ist nur noch das leise Rauschen des Meeres zu vernehmen. Eine unverschämt effektive Einführung für das Monster, von dem deutsche Zuschauer schon wissen, dass es „Der weiße Hai“ ist, während im Originaltitel nur „Jaws“, das „Maul“ erwähnt wird. Effektiv ist sie vor allem deshalb, weil sie es nicht zeigt: das Maul, das Monster, den weißen Hai.

Die Maßnahme, diesen Hai die gesamten zwei Stunden nur selten zu zeigen, seine Präsenz nur anzudeuten, war aus der Not geboren. Der mechatronische Hai, vom Filmteam liebevoll „Bruce“ genannt, sah leider viel zu künstlich aus. Also blieb nur die Kompensation: Auf famose Art und Weise verschleierten die Filmemacher die visuelle Abwesenheit des Monsters. Spielberg filmte Badegäste mit Unterwasserkameras aus der Subjektiven des Hais, machte den Zuschauer zum Mitverschwörer der unaufhaltsamen Fressmaschine. Gelbe Fässer, mit denen der Hai bei der Jagd markiert wird, flitzen über die Wasseroberfläche. Ein abgebrochener Pier dreht sich wie von Geisterhand auf dem Wasser um, jagt einem Schwimmer hinterher. So wurde der Hai ein grausiges Mysterium, seine genaue Größe kann lange bloß erraten werden. Erst im spektakulären Finale hat „Bruce“ doch noch seinen großen Auftritt.

Beispiellos für die verängstigende Spannung war insbesondere die Filmmusik von John Williams. Wann immer das prägnante musikalische Leitthema aus nur zwei Noten ertönt, gibt es Auskunft darüber, dass der Hai anwesend ist – und in der Regel bald jemand als Fischfutter enden wird. Angelehnt war diese Methodik an das Zeichentrickfilm-Meisterwerk BAMBI. Aus der Sicht eines Hirsches erzählt, werden auch hier die feindlichen Menschen nie gezeigt, sondern nur über eine bedrohliche Melodie von Frank Churchill vertreten – eine Melodie, die wohl nicht ganz zufällig stark der ähnelt, die Williams für den weißen Hai ersann, und für die er einen Oscar erhielt.

Er ist der perfekte Komponist für den Film, weil er seine beiden Genres kongenial bedienen kann: Nervenzerfetzendes Spiel mit Urängsten und großes, unterhaltsames Abenteuerkino. Spielberg meistert diesen gewagten Mix durch eine räumliche Zweiteilung. Die erste Hälfte konzentriert sich auf die Angriffe des Hais auf Badegäste der Küstenstadt Amity, übt zudem starke Kapitalismuskritik: Weil das lukrative Wochenende rund um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli ansteht, weigert der Bürgermeister von Amity sich, die Strände zu schließen. Es müssen erst weitere Menschen ihr Leben verlieren, darunter ein Kind, ein – gerade in seiner expliziten Brutalität – seltener Tabubruch im Massenkino. Virtuos spielt Spielberg auf der Klaviatur der Paranoia, als er und sein Kameramann Bill Butler zeigen, wie Brody am Strand auf das Meer hinausstarrt, nach einem Anzeichen seines tierischen Feindes lauert.

Als sogar sein Sohn beinahe in den Schlund der Kreatur gerät, wechselt das Verhältnis: Der Gejagte wird zum Jäger. Den Film verschlägt es nun auf die „Orca“, das kleine Schiff des kauzigen Seebären Quint, der Brody und den jungen Ozeanographen Hooper aufs Meer hinausfährt. Williams‘ Musik wird leichtfüßig, aufregend, eskapistisch. Spielberg erlaubt seinen Figuren eine unbeschwerte Lockerheit. Beim gemeinsamen Trinken prahlen Quint und Hooper mit ihren Narben, beide durch Haie verursacht. Brody fasst sich kurz an eine nie näher erklärte Schussverletzung, behält sie jedoch für sich. Er lässt sich auf die Machospiele nicht ein, als könne er das Unheil ahnen, das ihnen bevorsteht.

Aus dem faszinierenden Drei-Mann-Mikrokosmos schöpft DER WEISSE HAI sein volles Potenzial, nicht zuletzt dank der phänomenalen Besetzung: Als mürrischer Kriegsheld Quint repräsentiert Robert Shaw eine archaische Vorstellung von harter Männlichkeit. Dem gegenüber steht ein vorzüglich aufspielender Richard Dreyfuss, dessen junger, wissenschaftlich begabter Hooper zum Vertreter der damals neuen Linken wird. Roy Scheider wiederum steht zwischen den Polen, sein Chief Brody ist wasserscheu, aber pflichtbewusst, engagiert, aber zurückhaltend. Sie alle drei sind Autoritätspersonen, Alphamännchen. Der Hai darf durchaus als Manifestation ihrer maskulinen Hybris gelesen werden. Einmal will Hooper etwa den Hai unter Wasser erledigen, klettert zu diesem Zweck in einen Haikäfig – den die Bestie aber ohne große Mühen auseinandernimmt.

Bei Quint hingegen werden latent wahnsinnige Züge erkennbar. Parallelen zu „Moby Dick“ und dem rachsüchtigen Kapitän Ahab sind beabsichtigt, als der ungewaschene Seefahrer offenbart, dass er im Zweiten Weltkrieg auf der „USS Indianapolis“ war, jenem Militärschiff, das die Atombombe nach Japan transportierte. Als es kurz darauf sank, trieben er und seine Mannschaft mehrere Tage im Wasser, ein Großteil von ihnen wurde von Haien zerfetzt. Wie Charaktervisage Robert Shaw diese Geschichte in einem intensiven, verstörenden Monolog präsentiert, ist großes Schauspielkino, wie es selten auf der Leinwand zu sehen ist. Angeblich stand die gesamte Passage so nicht im Drehbuch: Der Regisseur John Milius improvisierte sie für den befreundeten Spielberg am Telefon.

Am Ende werden sowohl der Arbeiterklassen-Patriot Quint als auch Bildungsbürger Hooper in den finalen Minuten aus dem Spiel genommen. Der ehrbare Durchschnittsbürger Brody muss sich als Actionheld der Mittelschicht dem Hai alleine stellen. Für manche erklärt das den Erfolg des Films, immerhin wurden so beide damaligen Lager der US-amerikanischen Filmkritik vereint. Intellektuelle Bewunderer des liberalen New-Hollywood-Kinos der 70er konnten ebenso bis zum Ende mitfiebern wie die konservative Generation, die noch dem Männlichkeitsbild der vergangenen Ära der John-Wayne-Western nachtrauerte.

Kein B-Film, und auch kein Trash: DER WEISSE HAI ging als gewaltiges Zeitgeistphänomen in die Popkultur ein, ist nach wie vor ein cineastischer Genuss. Steven Spielberg schuf einen Meilenstein des Unterhaltungskinos, der so viel Geld einbrachte, dass er den Begriff „Blockbuster“ neu definierte. Neben den Produktionskosten von neun Millionen US-Dollar gab Universal zwei weitere Millionen für eine Marketingkampagne aus, die – damals ganz modern – das Fernsehen miteinbezog und so neue Maßstäbe setzte. Werbevideos wurden erstellt, Talkshow-Tourneen veranstaltet, zudem verkauften sich T-Shirts, Spielzeuge, Tassen und dutzende weitere Werbeartikel. Die Vermarktung der Nebenprodukte artete so aus, dass Universal in Zeitungsannoncen verlauten ließ: „Der weiße Hai – Es ist auch ein Film.“

Schier unglaubliche 470 Millionen US-Dollar spielte der Mega-Hit anno 1975 ein. Nur einer litt unter diesem Erfolg: der Hai. In Folge der Dämonisierung des Tieres durch die insgesamt drei Fortsetzungen und zahlreichen Nachahmer geriet die für den Menschen weitgehend ungefährliche Tiergattung in Verruf, ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Peter Benchley bereute es deshalb ein Leben lang, die Romanvorlage geschrieben zu haben. Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 engagierte er sich leidenschaftlich für den Artenschutz.

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Jaws, USA 1975 | Regie: Steven Spielberg | Drehbuch: Peter Benchley, Carl Gottlieb, nach dem Roman von Peter Benchley | Kamera: Bill Butler | Musik: John Williams | Darsteller: Roy Scheider, Richard Dreyfuss. Robert Shaw, Lorraine Gary, Murray Hamilton | Laufzeit: 124 Min.