Ein gesellschaftlicher Blick auf Lenzis Giallo.

Starten wir mit harter Statistik: Seit den 1960er Jahren stürzte der Anteil der reichsten 10% der Bevölkerung in den westlichen Staaten ab (bis in die 1980er Jahre). Am Anfang der siebziger Jahre besaßen die reichsten 10% der Bevölkerung „nur“ noch 60% des gesamten Privatvermögens, während die folgenden 40% der Bevölkerung (die Mittelschicht) über 35% des Privatvermögens verfügten, und – in Klammer sei’s vermerkt – die untersten 50% der Bevölkerung sich mit 5% des Privatvermögens zufriedengeben mussten.

Oder, um es kurz zu machen: Auch wenn die Reichen in den späten 1960er Jahren immer noch sagenhaft reich waren, fühlten sie sich bedroht, weil der Reichtum prozentual etwas abnahm.

Die Zahlen aus Thomas Pikettys Untersuchungen (die er in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“ süffig aufbereitet hat) haben sich heute wieder zugunsten der oberen 10% gewendet. Heute würde ein Giallo über Reiche anders erzählt werden als 1969. Umberto Lenzis ORGASMO bildet aber, wie viele Gialli der Blütezeit von 1968 bis 1972, die Befindlichkeit der Oberschicht ab im Zug der kulturellen Veränderungen und revolutionären Bewegungen rund um 1968. ORGASMO zeigt die Angst, den Rückzug, die Aneignung durch eine verführerische, aber skrupellose Klasse junger Menschen – die 68er Generation.

Die reiche texanische Ölerbin Catherine West (Carroll Baker) zieht sich nach dem Tod ihres Mannes in eine Villa in Italien zurück. Sie lernt den jungen Amerikaner Peter Donovan (Lou Castel) kennen, der sich nach einer Autopanne nahe dem Anwesen ein paar Tage in die Villa einladen lässt. Peter ist ein Künstler, Lebemann und meist ein paar Monatsmieten im Verzug, ein Charmeur, ein moderner Macho und ein guter Unterhalter. Die beiden landen zusammen im Bett, und selbst als kurz darauf Peters Schwester Eva (Colette Descombes) in der Villa auftaucht, geht der fröhliche Reigen erst mal weiter. Von Nachtclubbesuchen bis zum flotten Dreier. Wobei da Catherines Skepsis bereits wächst, zusammen mit ihrer Hilflosigkeit. Denn die beiden „Geschwister“ können auch einschüchternd sein, vertreiben die alteingesessene Dienerin Teresa (Lila Brignone), die das Unheil natürlich kommen sieht, und treiben Catherine schließlich immer mehr in die Alkoholsucht.

Was in ORGASMO zum Tragen kommt, ist die Furcht vor der neuen Generation. Die kann nämlich gleich mehrere Mittel aufbieten, um selbst die sich selbst abschottende Oberschicht (Catherine lebt in einer Villa mit hohen Mauern) für sich zu gewinnen. Zuvorderst ist da natürlich der lockere Umgang mit Sex, der „offene“ Sex. Doch neben Sex und Jugendlichkeit ist die ganze Kultur der 68er verführerisch, insbesondere die Musik. Als Catherine dann die Aggressivität der beiden am eigenen Leib erlebt, empfindet sie auch das Yeah-Yeah-Yeah-Popstück, das die beiden in größter Lautstärke hören, als extrem übergriffig. Und nicht zuletzt kommen diese 68er scheinbar aus dem Nichts. Sie sind klassenlose Streunerinnen und Streuner, keinem Beruf und keiner privaten Altlast verpflichtet.

Und Peter und Eva wollen nicht einfach das Geld. Sie wollen einfach in der Villa wohnen und es sich gut gehen lassen. Ihre Übergriffigkeit ist erst einmal lediglich der Wunsch, auch einen Teil des guten Lebens abzubekommen. Doch natürlich führen Möglichkeiten, die sich auftun, zu mehr Gier. ORGASMO dreht sich um den Umgang der oberen Zehntausend mit dem Jugendkult der 68er, der Hippies, der Pop-Generation. Mode, Popkultur und das Aufgeben von Zwängen und Vorschriften à la Knigge bedeuteten eine längst fällige Erneuerungsspritze für die reiche Oberschicht, bargen aber auch Gefahren, die Privilegien abgeben zu müssen. Diesen Geist fängt Lenzi in seinem Film ein.

Lenzis Film ist stilistisch hochklassig und in wunderbaren Farben abgedreht, sein vielleicht bester. Und Lenzi schert sich nicht um ein Happy End. Das Ende des Films kann höchstens als zynisches Happy End bezeichnet werden. Menschlich gesehen ist der Film natürlich bitterböse, grausam und ein schrecklich-schönes Drama à la Hitchcock.

Bleibt das Rätsel, weshalb der Film ORGASMO heisst, wo es doch eher darum geht, dass der Orgasmus als Glückseligkeit von Kathryn eher verhindert wird. Tatsächlich wollte Lenzi den Film PARANOIA nennen, doch sein Produzent verweigerte Lenzis Wunschtitel, weil der ihn zu sehr an das italienische „noia“ erinnerte, was Langeweile bedeutet. Allerdings vergass man, den Commonwealth-Ländern Bescheid zu sagen – weshalb der Film in den USA als PARANOIA veröffentlicht wurde. Lenzi setzte dem Durcheinander noch einen drauf und nannte seinen ein Jahr später erscheinenden, nächsten Giallo PARANOIA.

Orgasmo
Frankreich / Italien 1969
Regie: Umberto Lenzi
Drehbuch: Umberto Lenzi, Marie Claire Solleville, Ugo Moretti
Kamera: Guglielmo Mancori
Musik: Piero Umiliani
Darsteller: Carroll Baker, Lou Castel, Colette Descombes, Tino Carraro, Lilla Brigone u.a.
Laufzeit: 98min. (ital. Originalversion), 91 min. (US-Kinofassung)