Unporn the corporations.

Die Website Hollywood Reporter meinte damals, die Erkenntnisse des Films hauten einen nicht aus den Socken. Doch das ist besserwisserisch und zu kurz gedacht – beim Thema Pornografie ja oft der Fall. Tatsächlich liegt im Dokumentarfilm PORNOCRACY der Wahnsinn oft im Detail, und wer nicht genau hinschaut oder -hört und wer kaum Vorwissen hat, erkennt das Wesentliche nicht.
PORNOCRACY hat nicht das Geld oder die Macht, um zu zeigen, was andere Dokumentationen (mit mehr Geld für versteckte Kameras und Recherche) zeigen würden, wenn eine seriöse Dok über Pornografie heute ein gutes Budget hätte. Außerdem ist das Fazit am Ende des Films sehr allgemein gehalten und klingt erst mal sehr schlapp: „Die internationalen Sexkonzerne folgen den Regeln einer neoliberalen Welt: Hemmungsloser Kapitalismus, eine Politik der verbrannten Erde, ohne Rücksicht auf die Arbeiter.“ So what? denkt man, ist ja wie bei jeder anderen Fleischverarbeitungsfirma auch.

Das ist natürlich zynisch. Und die 77 Minuten des Dokfilms lohnen sich allemal, denn im Gegensatz zum schlapp formulierten Fazit ist die ganze Dokumentation spannend aufgebaut und vermittelt doch einige Einsichten. Denn schließlich ist das Thema nicht weniger als die Digitalisierung der Pornobranche – und da herrscht inzwischen viel mehr Wildwest als in anderen Industrien. Wer allerdings die Geschichte der Pornoindustrie nicht kennt, kann den Paradigmenwechsel gar nicht richtig beurteilen. Das war eines der Probleme einiger Kritiker.

Darum kurz: Die Pornoindustrie nach ihrer Legalisierung in den 1970er Jahren basierte natürlich teilweise auf Mafiageld und keinen klaren Regeln, stabilisierte sich aber gegen Ende des Jahrzehnts mit richtigen Produktionsfirmen. In den 1980er Jahren folgte mit der Einführung von Video und Amateurfilmen kurzzeitig eine Destabilisierung, die in den USA (und Europa) ab den 1990er Jahren aufgefangen wurde durch viele große Unternehmen, die ästhetische Filme mit Story oder aber Gonzofilme produzierten und die sich den Großteil des Marktes aufteilen konnten. In den USA führte das zu klar definierten Gagen, klar definierten medizinischen Abklärungen (v.a. wegen der AIDS-Gefahr) und einem ausgeklügelten Starsystem. Lediglich die Sexpraktiken wurden immer härter, was in den „Pornotions“-Beiträgen in Splatting Image immer wieder angeprangert wurde.
Das Internet begann seine Möglichkeiten ab Mitte der 2000er Jahre richtig auszuschöpfen. Facebook entstand, Online-Shopping breitete sich aus, genauso wie Downloads und Streaming. Und so passierte, womit auch Zeitungen und andere „Content-Anbieter“ zu kämpfen haben: Inhalte wurden gratis.

Im Pornogeschäft entwickelten sich zur Zeit der Finanzkrise 2007/8 die ersten „Tubes“, in denen einfach Pornoszenen hochgeladen werden konnten und zum Gratis-Konsumieren freigegeben waren. Diese Entwicklung prägt die ganze Branche, denn die Tubes wie „Youporn“ oder Branchenleader „Pornhub“ haben ihre Firmensitze in Ländern, die nicht nur steuergünstig sind, sondern die auch keine Copyright-Beschränkungen kennen. Das bedeutete: Jeglicher Content seriöser Produktionsfirmen wurde durch diese Piraterie gratis zugänglich, so dass große Produktionsfirmen wie „Digital Playground“ entweder von der Mutterfirma aller Tubes, von Manwin (heute: Mindgeek) aufgekauft wurden oder ohnehin gezwungen waren, brutal günstig zu produzieren. In jedem Fall bedeutete das: Niedrigere Gagen für alle und lange Arbeitstage vom frühen Morgen bis tief in die Nacht.

Regisseurin Ovidie tastet sich behutsam an die undurchdringliche Über-Corporation „Mindgeek“ heran. Erst beginnt sie mit den Auswirkungen, die diese Verbilligung und dieses Abdrehen am Fließband in der Pornografie bewirkt haben. Sie besucht ein Haus in Budapest, in dem nur Pornomodels leben, die zusammen kochen und sich nach dem späten Feierabend unterhalten. Zeit für ein Privatleben haben sie nicht, deshalb drehen sich ihre Gespräche um die Essgewohnheiten vor den vielen Analsexszenen („Food is no good“) und um die immer größere Brutalität im Business (immer noch kein Ruhmesblatt ist Rocco Siffredi: „Ich hätte nicht gedacht, dass er so brutal ist“ meint eine Darstellerin, die vor lauter Ohrfeigen mit ihrem roten Gesicht zu kämpfen hatte). Sie besucht Pierre Woodman, der in den 1990er Jahren für die Produktionsfirma „Private“ mit Millionenbudgets drehte und heute mit einer kleinen Handkamera alles im Alleingang erledigt, auch den Schnitt. Auch die Models verdienen bis 10mal weniger als zuvor. Woodman weist außerdem auf eine weitere Problematik des einfachen Internetzugriffs hin: Der Jugendschutz ist noch weniger gewährleistet, als er es in den Tagen von Video und DVD war: „Heute sagen mir die Darstellerinnen: ‘Ich kenne dich, seit ich 8 bin’.“

„Wenn alles gratis ist: Wer verdient denn noch Geld?“ Gregory Dorcels Frage führt zum eigentlichen Kern von Ovidies Film: Die Frage nach der undurchsichtigen Super-Corporation „Manwin“ (35 verschachtelte Einzelfirmen – und ein interessanter Name: Pornografie als Siegeszug der Männer), die sich erst Youporn, dann alle weiteren Tubes einverleibt hat, die ganze Branche direkt oder indirekt beherrscht und überall die Arbeitsschrauben anzieht (inklusive einer Kampagne gegen Kondome am Set just zur der Zeit in 2012, als in der US-Pornobranche eine Syphilisepidemie grassierte). Der große CEO und Wizard, Computergeek Fabian Thylmann, inszenierte sich gern als Geschäftstalent von Internets Gnaden und größter Businessmann der Pornoindustrie – der er zweifellos auch war -, bis er schließlich (auch aufgrund von Recherchen der deutschen „Welt“) wegen Steuerhinterziehung festgenommen wurde. Das war der Moment, in dem „Manwin“ zu „Mindgeek“ wurde und anzunehmen war, dass hinter Thylmann noch ganz andere Leute die Strippenzieher des Konzerns sind. Und wie genau verdienen sie ihre Millionen, wenn alles gratis ist?

Mehr zu PORNOCRACY soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

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Pornocratie – Les Nouvelles Multinationales du Sexe, Frankreich 2017 | Regie: Ovidie | Mit: Alissiya, Leyla Bentho, Gregory Dorcel u.a. | Laufzeit: 77 min.