In der wahren Rock’n’Roll Hall of Genius käme David Bowie gleich nach den Beatles, und vielleicht zusammen mit oder nach Kraftwerk. In den siebziger Jahren hat er Enormes geleistet, auf dem Gebiet der Musik ebenso wie auf dem Gebiet der Geschlechterverhältnisse, aber auch in der Frage, was denn Identität und Persönlichkeit überhaupt sei und wie sie sich konstituiert und konstruiert. Wer im ersten Teil von Brett Morgans Dokumentarfilm MOONAGE DAYDREAM den Meister und die Fans der frühen siebziger Jahre sieht, der sieht die Ursaat der heutigen LGBTQ-Bewegung. Mit unglaublicher Souveränität und Sicherheit verbreitet Bowie ein Männerbild mit der Botschaft, dass sich auch Männer in Richtung Weiblichkeit öffnen sollten. (Und nicht, was – im Gegensatz dazu – in der Zwischenzeit geschehen ist: Dass Frauen sich „Männerqualitäten“ aneignen müssen.)
Das sind die wirklich imposanten und spannenden Szenen in Brett Morgans (KURT COBAIN: MONTAGE OF HECK) Bowie-Dokumentation. Nicht, dass man das nicht schon gewusst hätte, aber Morgans buntes, teilweise wild zusammengeschnittenes Film-Kaleidoskop aus einer Unmenge Archivmaterial und Filmschnitzeln aller möglicher Herkunft (gerne aber aus dem deutschen Stummfilm: METROPOLIS u.a.) wirkt mit der Zeit etwas ermüdend und redundant. Nicht dass die 140 Minuten zu viel Zeit für David Bowie wären, doch Morgans Konzept stellt sich als etwas zu limitiert heraus.
Nichtsdestotrotz ist die Bilderorgie streckenweise überwältigend. Regisseur Brett Morgan wurde das gesamte Bowie-Archiv geöffnet (der Meister hat offenbar alle Filmschnipsel von sich archiviert) und er verbrachte mehrere Jahre und manchmal 18 Stunden am Tag im Visionierungsraum. Was er erst als großen Traum empfand, wurde irgendwann zu viel: Morgan erlitt nach einem Jahr Arbeit 2017 einen Herzinfarkt und lag eine Woche im Koma. Ab dem Punkt änderte er seine Haltung dem Leben gegenüber, mit Hilfe der Botschaften Bowies, seinen Interviews, seinen Texten, seiner Musik. Schließlich wollte Morgan mit diesem Film seinen Kindern einen Fahrplan geben, wie man ein erfülltes Leben führen könne und wie er selbst auch noch einmal von diesen „großartigen Dingen“, die Bowie gesagt hat, profitieren könne.
Das hehre Ziel verfehlt seine Wirkung nicht ganz. In MOONAGE DAYDREAM sind tatsächlich eine Menge faszinierender Aussagen von Bowie zur Lebenseinstellung und zur Kunst nachzuverfolgen. Dabei werden nicht nur die Musik und das Image nach vorne gekehrt, sondern auch seine anderen Aktivitäten wie Film, Theater, Tanz, und vor allem aber die Malerei. Worüber Morgan jedoch stolpert, ist die reine Fokussierung auf David Bowie selbst. Woher denn die Kunst und das Genie kommen, wird leider völlig ausgeblendet. Lehrer, Einflüsse und Bekanntschaften wie Lindsay Kemp, Angie Bowie, Velvet Underground, Oscar Wilde, Van der Graaf Generator, Mick Ronson, William Burroughs, Lou Reed, George Orwell, Aleister Crowley, Iggy Pop, Neu!, Kraftwerk, Steve Reich, um nur einige zu nennen. Deren künstlerischen Einfluss aufzuzeigen, hätte dem Film noch etwas mehr Tiefe verliehen. Lediglich Brian Eno schafft es en passant in den Film, weil es in Berlin um diese radikale künstlerische Umorientierung ging; darum, Musik völlig anders anzugehen und den Schaffensprozess zu verändern. Sogar Enos Kartenset zur Neuorientierung der kreativen Prozesse, die „Oblique Strategies“, wird schnell-schnell mal eingeblendet.
Während besonders der Bowie in Los Angeles, der sich völlig am Rande des Zusammenbruchs befand, nur noch von Milch und Kokain ernährte und mit Kabbala und Faschismus beschäftigte, beinahe völlig ausgespart wurde, werden dafür seine Aussagen in den achtziger Jahren auch für Bowie-Kenner spannend. 1983 erschien er ja plötzlich als blonder, braungebrannter Smartass-Typ, was ihn in den USA endlich auch zum Superstar machte. Mit Musik, die (mit Ausnahmen) etwas belangloser wurde, aber der Person, die offenbar nicht mehr faustisch auf der Suche war, sondern Ruhe und Ausgewogenheit ins Leben einbauen wollte. Hier findet Morgan tatsächlich interessante Interviewpassagen und stellt nicht zuletzt den Songtext von „Absolute Beginners“ in diesen Kontext: „I’m an absolute beginner / but I’m abolutely sane.“
Fazit: In MOONAGE DAYDREAM steht – wie der Titel sagt – der spacige Tagtraum im Vordergrund. Und das visuelle Feuerwerk bereitet streckenweise großes Vergnügen, doch der Film ist bestimmt nicht die abschließende Dokumentation über David Bowie. Übrigens auch musikalisch nicht: Es gibt zwar viele interessante Schnipsel für Fans, aber er zeigt niemals das musikalische Können und die musikalische Breite auf. Im Gegenteil: Morgan scheint absichtlich auf Highlights oder Naheliegendes zu verzichten und ungesehene Sachen in den Vordergrund zu stellen. Aus jeder Phase einen stellvertretenden und oft überraschenden Song (wie z.B. das schreckliche „When you Rock’n’roll with me“ aus „Diamond Dogs“).
Moonage Daydream
USA / Deutschland 2022
Regie: Brett Morgan
Darsteller: David Bowie u.v.a.
Laufzeit: 135 Min.