Das Werk des koreanischen Filmemachers Kim Ki-duk spielt nach eigenen Aussagen an der Grenze zwischen schmerzhafter Fantasie und hoffnungsvoller Realität. Ob in den tiefen Wäldern Koreas, in ländlicher Idylle nahe einer US-Militärbasis oder im Rotlicht-Distrikt der Grossstadt: Die Menschen verstummen und ihr Unterbewusstes übernimmt. Mit Gewalt. Ein semi-abstrakter Bericht in drei Filmen.
THE ISLE, 2000: Versteckt in den Wäldern Südkoreas liegt ein geheimnisvoller, geradezu mythischer See, auf dem nicht nur Dunstschwaden idyllische Akzente setzen, sondern auch die kleinen, bunten Hausboote romantische Farbtupfer aus einer zivilisierten Welt. Nicht nur Wochenendangler nutzen die putzigen Absteigen auf dem Gewässer: sie sind wie gemacht für verbotene Liebespaare und üblere Rechtsbrecher. Die schweigsame Vermieterin Hee-Jin kontrolliert das Reich des Wassers, denn sie agiert als Fährfrau mit dem einzigen Boot auf dem See und ist eine geübte Taucherin. Sie liefert mit ihrem Boot Werkzeuge, Essen und – wenn das Geld stimmt – durchaus auch ihren Körper.
Dem selbstmordgefährdeten Hyun-Shik rettet sie zweimal das Leben, organisiert ihm eine Prostituierte und schützt ihn vor der Polizei. Es macht den Anschein, als sei sie in den ebenso ruhigen, geheimnisvollen Jüngling verliebt. Und die zwei avancieren schliesslich zu Partners in Crime, als sie gemeinsam den Zuhälter der bereits ermordeten Prostituierten im See versenken. Doch was als blutig-masochistische Beziehung begann (Hyun-Shik verschluckt Angelhaken, um der Polizeifahndung zuvorzukommen, Hee-Jin führt Angelhaken in ihre Vagina ein, um ihn zum Bleiben anzuhalten), endet in einem quälenden Freitod im Wasser.
Im abgeschiedenen Gewässer, in dem die fliehenden Menschen Sicherheit suchen, gehen sie schliesslich unter. Sie werden Gefangene einer Gewalt, „die ironischerweise voller Schönheit ist“ (Kim Ki-duk). Die Gewalt ist eine strukturelle, angelegt in der eigentümlichen, magischen Dynamik des Ortes, die das Verhalten der Personen untereinander entscheidend prägt. In THE ISLE kommen Regeln zum Tragen, die ausserhalb der erwartbaren Grenzen von Moral und Menschenverstand liegen. Deshalb verliert auch die Verständigung durch Sprache ihre Bedeutung. Der Lebensrhythmus wird durch die malerisch-mystische Naturlandschaft vorgegeben.
ADRESS UNKNOWN, 2001: Auch hier geht es um Lebensverläufe, die von einer bestimmenden Umgebung geprägt werden, in der Menschen ihre Handlungsfähigkeit nicht mehr in der Sprache finden (auch nicht in der brieflich abgefassten, siehe Titel). Jede alltägliche Geste der Bewohner scheint – oft eher unbewusst als bewusst – von der US-Militärbasis in der Nähe bestimmt zu sein. Wieder trügt die ländliche Idylle. Ein Mädchen hat ein zerstörtes Auge, weil ihr Bruder mit einer aus Holz gebastelten Pistole auf sie schoss. Die Mutter des afroasiatischen Mischlings Chang-guk lebt in einem alten, roten Air Force-Bus und schreibt dem längst in den USA lebenden Vater Briefe, die nicht ankommen. Im Dorf trägt man Militär-Kleidungsstücke und erhandelt von der Air Base ein paar „Playboy“-Magazine, die für das Erlernen von Sexualität genauso bestimmend sind wie der Stripschuppen am Rande des Camps. Hunde – wie wir wissen in Korea ein veritables Nahrungsmittel-Business – werden mit Baseballschlägern totgeschlagen.
Das Ende des Filmes ist so gewalttätig, wie das die kleinen, brutalen Schicksale bereits erahnen lassen. Es geht um die Geschichten, die entstehen, wenn Menschen aufeinander treffen, die sich eigentlich nicht verstehen. Die unendliche Traurigkeit dieser Schicksale ist umso beklemmender, als dass man die Unfähigkeit der Menschen bemerkt, durch irgend eine Form der bewussten Kommunikation den Verlauf der Dinge verändern zu können. (Erstaunlich ist dabei, dass Kim Ki-duk sich nicht als Fatalist sieht, sondern lediglich als einer, der – ganz klassisch – durch das Filmen die Zusammenhänge der Welt ergründen will.)
ADRESS UNKNOWN berührt durch die Menschlichkeit, mit der Ki-duk kleine Alltagsszenen zeichnet und gleichzeitig durch die Erkenntnis, dass diese eingespielten grossen und kleinen Gewalttätigkeiten ihren unmittelbaren Einfluss aus der US-Besatzungmacht ziehen, die allerdings nur die eigentlichen „Verständigungszeichen“ bilden für etwas tiefer Liegendes. Denn die US-Präsenz führt nur vor, was auf den Koreakrieg zurückgeht – so wie die aquatische Welt in THE ISLE lediglich ein Verhalten begünstigt, das aus der Zweiteilung von Mensch und Natur entsteht. Taucht man ein in diese sprachlosen Tiefenstrukturen, so, folgert Kim Ki-duk, wird in ADRESS UNKNOWN eine Gewaltachse vom Koreakrieg bis hin zum japanischen Imperialismus sichtbar: „Die Gewalt, die bei uns über Generationen wiederholt wurde, ist wohl eine singuläre koreanische Gewalt.“
BAD GUY 2001: Um Gewalt mit romantischem Flair geht es auch in Kim Ki-duks neuestem Film. Kann man Hee-Jin in THE ISLE als ambivalente Frau zwischen Aufoperung und rachsüchtigem Rollenmodell wahrnehmen, so geht Sun-Hwa, die Protagonistin in BAD GUY einen sehr viel demütigeren Weg. Als sie auf offener Strasse von einem aggressiven Typen einfach angebaggert und geküsst wird, wehrt sie sich noch – er wird von ein paar Polizisten überwältigt. Als sie aber später in eine Falle läuft und durch einen fiesen Trick in die Verschuldung getrieben und zur Prostitution gezwungen wird, ist sie erst zwar renitent, erkennt aber langsam die Schicksalsgemeinschaft, die sie mit dem gewalttätigen Zuhälter Han-Guy verbindet, dem Bad Guy – der den ganzen Film über kein Wort sagt und lediglich über stumme Blicke und Gewaltausbrüche agiert. Auch aus der einst geschwätzigen Studentin wird eine nachdenkliche, in sich versunkene Prostituierte.
In BAD GUY zeigt sich eine perverse Solidarität mit dem Underdog. Der verschlossene Zuhälter wird zu einem Helden von geradezu mythischem Zuschnitt, genauso wie die Strasse im Redlight-District und das Zimmer Sun-Hwas in den Sog des Symbolhaften geraten. Die Liebe zur „Mainstream“-Studentin entwickelt sich erst, als sich beide oft genug durch einen Einwegspiegel angeschwiegen haben. Die Prostitution (übrigens zu keiner Sekunde voyeuristisch eingesetzt) dient dem Regisseur vor allem als Mittel, Klassenunterschiede deutlich zu machen, um die Kommunikation durch Sprache zu verunmöglichen.
Kim Ki-duk selber nennt seine Filme „semi-abstrakt“. Mit beinahe epischem Atem führen sie an einen Punkt heran, an dem die Realität durchschaubar wird in ihrer Konstruktion durch ein strukturierendes „Vor-Sprachliches“: eine Tiefenstruktur komplex organisierter Symbole mit ihrem Einfluss auf die Umwelt und die Handlungen der Menschen. Oder, wie es Kim Ki-duk anhand der sadomasochistischen Fischerhaken-Symbolik von THE ISLE erklärt: „All die verschiedenen Typen psychischer Energie wie intensive Zuneigung, Liebe, Wut und Eifersucht, sind die einzigartigen Energien in unserer Gesellschaft. Das dominante Bild in diesem Film sind die beiden Angelhaken, die sich zu einem Herz zusammenfinden.“
Zuerst veröffentlicht 2002 in der Schweizer Zeitschrift MASSIV