Die Hölle – das Bild der Anderen. Von Matthias Ehrlicher

Von Matthias Ehrlicher

2011 wird der chinesische Regimekritiker und international anerkannte Künstler Ai Weiwei in Peking verhaftet. Ihm werden von Seiten des Staates Steuerhinterziehung und weitere Delikte zur Last gelegt, die er selbst vehement bestreitet. Der Fall erregt weltweit Aufmerksamkeit. Die Akademie der Künste, Museen und Prominente protestierten gegen seine Verhaftung. Sogar die Bundesregierung brachte den Fall zur Sprache. Vergeblich! An einem unbekannten Ort, abgeschirmt von der Öffentlichkeit und seiner Familie, bleibt er 81 Tage in Einzelhaft. Doch dieser Begriff ist irreführend. Denn er ist nie allein. Rund um die Uhr befinden sich zwei Bewacher in seiner Zelle. Einer sitzt, der andere steht oder geht immer denselben Weg in seiner Zelle auf und ab. Tag und Nacht! Angeblich, um einen Selbsttötungsversuch zu verhindern. Das Spülbecken, Klo und Tisch sind aus diesem Grund mit Plastik umwickelt. Der Film beginnt, als Ai Weiwei nach seiner überraschenden Entlassung zu Hause eintrifft und unter Hausarrest gestellt wird. Der Zuschauer wird von nun an Zeuge, wie der Künstler versucht, unter den neuen Bedingungen zu leben.

ai.weiwei.the.fake.case.2013.cover Über ein Jahr hat der Dokumentarfilmer Andreas Johnson ihn, seine Familie, Freunde und Kollegen begleitet. Wir kommen dem Künstler und seiner Familie sehr nah – oftmals zu nahe. Sein Zustand nach der Entlassung lässt sich nur als traumatisiert beschreiben. Er ist gesundheitlich angeschlagen, hat Erinnerungslücken, Schlafstörungen und nickt andererseits mitten in Gesprächen ein. Wir erleben ihn, wie er mit seinen Assistenten versucht, seine Zelle millimetergenau für ein Kunstprojekt zu rekonstruieren, aber vieles vergessen hat. Die Entstehung dieses Projektes ist so etwas wie der künstlerische, berufstätige rote Faden des Films. Der andere ist, wie Ai sich von einem Opfer, das seine Situation nicht noch verschlimmern will – der sich allen ausländischen Interviews verweigert, die Staatsmacht jedes Mal, wenn er das Haus verlassen muss, um Erlaubnis fragt – zu einem Gegner entwickelt. Er nutzt seine Popularität, um sich international Gehör zu verschaffen, schreibt in seinem Blog über die Situation, wird zusätzlich zu den Kameras der Polizei, die sein Haus bewachen, eigene über Schreibtisch und Bett stellen, die vierundzwanzig Stunden lang streamen. Eine „Kunst-Provokation“! Er wird von den Behörden aufgefordert das zu unterlassen, begründet es aber damit, dass er der Polizei bei seiner Überwachung nur helfen wolle. Er filmt und fotografiert fast manisch alles und jeden mit seinem Handy: Die Wagen der Staatsmacht, die ihn verfolgen, die Männer, die ihn beim täglichen Spaziergang beobachten. Er sieht und wird gesehen. Als Beitrag zu einer Ausstellung wird er den Abguss eines Aschenbechers seiner Bewacher einschicken.

Er benutzt die Kameras als Waffe und Schutz zugleich. Immer wieder erleben wir Fernsehteams in seinem Haus. Als einer seiner Freunde mit blauen Flecken an beiden Armen sein Haus betritt, weil im die Bewacher sein Handy abnehmen wollten, stürzt Ai wutentbrannt aus dem Haus und attackiert die Polizisten nicht nur verbal. Alles vor laufenden Kameras der Presse. Ein Teil der Beamten rückt daraufhin ab. Sie wirken komplett überfordert.

Interessanterweise hat Johnson hier kein Künstlerporträt im landläufigen Sinne gedreht, wie man es aus Filmen über Picasso, Pollock, Richter oder Kiefer kennt. Wir sehen Ai nie selbst bei der künstlerischen Arbeit. Es finden keine Gespräche über Kunst oder deren Bedeutung statt. Das Zentrum ist ausschließlich Ai Weiwei. Johnson zeigt einen Mann, der sich selbst zu einem bedeutenden Teil der chinesischen Geschichte erklärt hat, aber nicht weiß, wie diese ausgeht. Ihm gelingt hier ein Film, der den Betrachter verärgert, verunsichert, bereichert, berührt und überfordert zurücklässt.

Verärgert: Weil man sich oft wünscht, man würde über den Tellerrand Ai Weiweis hinausblicken können. Erfahren, wie es anderen Dissidenten ergeht, die keinen Schutz durch ihre Prominenz erhalten, weil sie zum Beispiel enteignete Bauern sind, und für die sich kein deutscher Außenminister einsetzt. Ai selbst spricht nie darüber oder über andere. Man möchte mehr erfahren über ein Land, einen Staat, der so mit seinen Menschen umgeht und vor allem warum. Verunsichert: Weil genau das nicht passiert. Mit der Zeit, vor allem durch Gespräche Ais mit seinem Anwalt, beschleicht einen der Verdacht, sie wissen ebenso wenig wie der Zuschauer, was um sie herum passiert und warum. Sie, die in diesem System leben, verstehen es nicht. Und das soll so sein. Es gibt sie hier nicht, die von uns Westlern als so selbstverständlich angenommene Rechtssicherheit. Das ist die Bereicherung die Johnsons Film schafft. Über Ai Weiwei lernen wir einen Menschen in einem System kennen, das so schnell Fenster öffnet und schließt, dass keiner mehr hinterherkommt. Es berührt zutiefst, wie der Mensch Ai sich mit seiner Familie durch dieses System kämpft. Sohn und Ehefrau leben seit Ende 2014 in Berlin, er darf bis heute nicht ausreisen. Wie er versucht, seiner Mutter die Angst vor der Zukunft zu nehmen. Sie und Ais Vater waren zwanzig Jahre in der Verbannung. Wären die Zeiten wie damals, so sagt sie, wäre ihr Sohn längst tot! Das alles muss der überforderte Zuschauer erst mal verkraften. Das ist Andreas Johnsons Verdienst.

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Ai Weiwei – The Fake Case, Dänemark/China/Großbritannien 2013, Regie: Andreas Johnsen

Anbieter: Mindjazz Pictures