Von Heinz-Jürgen Köhler
Wo warst du, als die Mauer fiel? Regelmäßig stellen sich Menschen an politischen Gedenktagen diese Frage: Wo warst du, als Kennedy erschossen wurde (für die Älteren), als Lady Di verunglückte, die Mauer fiel, bei 9/11? Dabei geht es auch darum, die Welt- und die persönliche Geschichte zusammenzubringen. Und genau das ist der Ansatzpunkt von ALS WIR TRÄUMTEN.
Wo warst du, als die Mauer fiel? Wenn man das Dani, Mark, Rico, Paul und Pitbull fragen würde, könnten sie sagen: in der Pubertät. ALS WIR TRÄUMTEN erzählt von jungen Burschen und ihrem Land, die sich beide in einer dramatischen Umbruchphase befinden. Dani und die anderen sind nicht mehr Jungen und noch keine Männer, ihr Land ist nicht mehr DDR und noch nicht vereinigtes Deutschland.
Vor kurzem waren sie noch junge Pioniere, eingeschworen auf die Verteidigung des Arbeiter- und Bauernstaates. Nun, kurz nach dem Ende der DDR, lassen es Dani & Co. am Stadtrand von Leipzig ordentlich krachen. Rauchen, saufen, Pillen einwerfen, Autos knacken, grölend durch die Nacht rasen – das ist ihre neue Freiheit. Und manchmal lassen sie die geklaute Karre auch in Flammen aufgehen. Wer sollte sie aufhalten? Die Eltern sind selbst mit der neuen Situation überfordert, die Polizisten nehmen sie nicht ernst, die Lehrer von damals haben nichts mehr zu sagen.
Was die fünf von ihrem Leben erwarten? Nun, ja. Rico (Julius Nitschkoff) will Boxer werden, so groß wie Henry Maske. Dani (Merlin Rose) das Herz seiner Angebeteten gewinnen. Und sonst? Eines wollen sie auf jeden Fall: Party machen. Dazu ziehen sie in einem abgerockten Fabrikgebäude einen illegalen Club auf, mit Musik, die wahrscheinlich am wenigsten nach DDR klingt: Techno. Bald läuft der Club gut, viele andere wollen auch zu hämmernden Elektro-Beats die neue Zeit feiern. Doch dann gibt’s Ärger mit anderen, die die neue Freiheit auf ihre Weise nutzen. Sie haben Glatzen und tragen Springerstiefel.
Große Namen stehen hinter diesem Film. Regisseur Andreas Dresen gewann schon 2002 mit HALBE TREPPE einen Silbernen Bären bei der Berlinale, auf der sein neuer Film auch Premiere hatte. Wolfgang Kohlhaase schrieb als Drehbuchautor von BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER (1956) und SOLO SUNNY (1980) DDR-Filmgeschichte und arbeitet hier zum dritten Mal mit Dresen zusammen. Gemeinsam brachten sie den gleichnamigen Roman von Clemens Meyer (der im Film einen Gastauftritt als Polizist hat) auf die Leinwand.
Ihr Film ist fulminantes Power-Kino, das mit großem Schwung zwei regelmäßig gehörte Klagen über das deutsche Kino vom Tisch wischt. Das deutsche Kino – so heißt es oftmals nicht zu unrecht – könne Jugendkultur nicht authentisch darstellen, und es überlasse zeitgeschichtliche Stoffe dem Fernsehen. Wer das fortan noch behauptet, muss sich vorwerfen lassen, ALS WIR TRÄUMTEN nicht gesehen zu haben. Die Zeitgeschichte ist da, und Dresen, der bisher durch bewegende, formal aber eher konventionelle Filme von sich reden machte, hämmert sie im Techno-Rhythmus auf die Leinwand, dass einem die Augen und Ohren übergehen. Knallig eingeblendete Kapitelüberschriften betonen die Fragmentierung der Geschichte und zeugen von der Lust des Regisseurs am Ausprobieren. So dreckig, verschwitzt und vielleicht auch so nah am Leben war Dresen vorher noch nie. Möglich wird diese großartige Authentizität durch seine fabelhaften Darsteller, die allesamt unverbrauchte, aufregende Gesichter sind. Dass ALS WIR TRÄUMTEN auf der Berlinale leer ausging, verwundert dann allerdings doch ein bisschen.
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Als wir träumten, Deutschland/Frankreich 2015 | Regie: Andreas Dresen, Buch: Wolfgang Kohlhaase, Buchvorlage: Clemens Meyer | Mit: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Marcel Heuperman, Joel Basman, Frederic Haselon, u.a. | Laufzeit: 117 Minuten, Verleih: Pandora (Kinostart: 26.02.2015).