1977. Die Flugzeugkatastrophe von Teneriffa fordert hunderte Opfer, in Frankreich stirbt der letzte Delinquent durch die Guillotine, der Terrorismus der RAF schießt mit tödlicher Gewalt gegen das System – es ist ‚Deutscher Herbst‘. Und in jenes aufgeheizte Klima der ungefestigten Gesellschaft, einem schmeichelnd samtigen Mantel gleichkommend, platziert David Hamilton seinen filmischen Erstling BILITIS – ein in Pastellfarben gehülltes, unaufdringlich ruhiges Melodram mit vielen stilisierten Frauenkörpern. Verkehrte Welt anno ’77.
Die leidlich unerfahrene Internatsschülerin Bilitis erlebt in ihren Sommerferien bei Verwandten ihre ersten Gefühlsregungen, findet in einem Jungen die vermeintlich große Liebe, die sie jedoch bereitwillig an Ihre erwachsene Freundin Melissa verliert. Bei aller erotischen Versuchung und zärtlicher Leidenschaft ist es für Bilitis jedoch ein wichtiger Schritt auf dem Weg in das Leben einer erwachsenen Frau.
Thematisch schlängelt sich also eine fast klassische Coming-of-Age-Geschichte durch den Film. Die ersten Gefühle, die Phase des ‚Probierens‘, der Verlust der großen Liebe, der gestärkte Blick nach vorn. Jede Generation hat ihre Filme, die gerade um dieses Thema wiederholt kreisen – die 1960er hatten DIE REIFEPRÜFUNG (1967), die 1980er LA BOUM – DIE FETE (1980). BILITIS wollte das wohl auch für die 1970er sein.
Die Schauspieler, allen voran die wunderbare Patricia „Patti“ D’Arbanville, bringen die Gefühlszwiespältigkeiten der Charaktere gut zum Ausdruck. Eine besondere Rolle als einen dem ganzen Treiben still beobachtend gegenüber stehenden Intellektuellen spielt Mathieu Carrière mit gewohnter Intensität.
David Hamilton, der sich als Meister der so genannten „Lolitafotografie“ einen Namen und den Schleier des Weichzeichners zu seinem Markenzeichen gemacht hatte, versicherte sich für die erste Arbeit mit bewegten Bildern der Dienste des versierten Kameramannes Bernard Daillencourt; auch Schnittmeister Henri Colpi stand ihm tatkräftig zur Seite. Gemeinsam kleideten sie BILITIS in ein makelloses Meisterwerk erlesener Fotografie, wofür das simple Wort ‚schön‘ vollends zutrifft. Fließende Linien statt störenden Kanten, ästhetische Bewegungen anstelle unruhigem Rumgehampel – und bei jeder Gelegenheit wiegen sich kindlich-pubertäre oder jugendlich-erwachsene Frauenkörper in Seeböen, in glasklarem Seewasser, in hauchdünnen Negligees. Auch wenn speziell deutsche Filmerzeugnisse á la SCHULMÄDCHEN-REPORT (1970) in hemdsärmeliger Manier darauf abstellten und die Franzosen sich mit Produktionen vom Schlage einer Emmanuelle (1974) dem auch nicht entziehen konnten – so ganz konnte man auch Hamilton nicht absprechen, bei allem Kunstanspruch die Kassenträchtigkeit seiner filmischen Darstellung stets im Blick behalten zu haben.
Großes Plus und unbändiger Gefühlsverstärker des Filmes ist ohne Zweifel der Soundtrack von Francis Lai. Während zeitgleich in Großbritannien die erste Punkwelle alle Sehnsüchte und Aufbruchsgeister der Jugend komprimierte und ihr ein musikalisches Gesicht gab, verfertigte der Oscarpreisträger Lai eine bisweilen fast enervierend elegische und aufregungsfreie Musik, deren melodietupfender Synthesizer Ohrwurmqualitäten mitbrachte. Für den Film ist es die perfekte Tonspur des Liebens und Leidens der kleinen Bilitis, für Chartnotierer und Plattenteller war es der programmierte Verkaufsschlager – 800.000 Exemplare gingen über den Ladentisch. Und mochte die Thematik des Filmes auch eine gewisse Restanrüchigkeit behalten, so konnte gegen das Hamilton’sche LP-Cover nichts gesagt werden; die Filmmusikveröffentlichung fand sich plötzlich in den besten Haushalten wieder.
Die Blu-ray der Busch Media Group präsentiert den Kultstreifen in einem brandneuen Transfer, dem eine französische Vorlage zugrunde lag. Für das Alter erstaunlich, zeigen sich keine bemerkenswerten Alterserscheinungen; dass die Beurteilung der Schärfe hier schwerfällt, dürfte nicht zuletzt dem filmischen Stil geschuldet sein. Der deutsche Ton präsentiert sich zwar dynamikarm, aber gut verständlich und lässt die ansprechende Synchronbearbeitung in sauberer Form erklingen. Der französische Originalton ist ebenfalls vorhanden. Bei den Extras zieht die Veröffentlichung allerdings genauso blank wie die meisten Akteure des Films – lediglich eine Trailershow zu anderen Label-Releases wird kredenzt.
Aus heutiger Sicht mag einem die einstige Begeisterung für diesen Film etwas ‚schleierhaft‘ vorkommen, nichtsdestotrotz ist er Dokument einer vergangenen Ära. Als man der rauen Wirklichkeit Pastelltöne entgegensetzte. Als mit Weichzeichner gefilmte Jungmädchenkörper noch keinen sittlichen Aufschrei auslösten. Als ein Film wie BILITIS noch mehrere Millionen Zuschauer ins Kino locken konnte. Verkehrte Welt anno ’77.
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Bilitis, Frankreich/Italien 1977, Regie: David Hamilton, Mit: Patti D’Arbanville, Mona Kristensen, Bernard Giraudeau, Mathieu Carrière, Gilles Kohler, Irka Bochenko u.a.
Anbieter: Busch Media Group