Abtreibung der Taubstummen.

Mit dem Hubert Bals Fund unterstützt das Filmfestival von Rotterdam jedes Jahr aufs Neue Filmprojekte aus Ländern, deren kultureller Output nur selten internationale Beachtung findet – nicht zuletzt, weil deren Filmförderung nicht existent oder nicht ausreichend ist. Mit der Teilfinanzierung von THE TRIBE des Ukrainers Myroslav Slaboshpytskiy bewiesen die Niederländer einmal mehr ein glückliches Händchen, denn der Film gewann beim letztjährigen Filmfestival von Cannes gleich drei Preise in der „Woche der Filmkritik” und avancierte auch auf seiner Tour durch die diversen Festivals zum Hit.

the.tribe.2014.cover Dabei bedient sich Slaboshpytskiy rein storytechnisch zunächst einmal nur klassischer Erzählelemente des Film Noir. Nichts also, was man nicht schon so ähnlich tausendmal gesehen hätte. Doch führt THE TRIBE in eine Welt, die den Hörenden bislang verschlossen blieb, sind doch alle Protagonisten taubstumm – und der Film verzichtet auf jegliche Untertitel. Durch diesen Kniff schlägt THE TRIBE eine Brücke von den klassischen Erzählformen und dem Stummfilm hin zum modernen abstrakten Tanztheater. Die Limitierung der Charaktere gerät dabei nicht zur exploitativen Exhibition, sondern wird zum integralen Element der Geschichte, die um einige tragische Momente ärmer wäre, würden die Figuren hören können.

Angesiedelt in einer Schule für gehörlose Jugendliche im heutigen Kiew entwirft der Film die Miniatur einer hierarchischen Gesellschaft, in der nur Gewalt und Skrupellosigkeit einen sozialen Aufstieg ermöglichen und die nur durch die kriminellen Machenschaften seiner Mitglieder am Leben erhalten wird. Als ein Neuling im Institut eintrifft, muss dieser sich in dem archetypischen System behaupten, Initiationsriten bestehen, um schließlich langsam in der Rangordnung aufzusteigen. Aus einem kleinen Taschendieb wird so ein Zuhälter, der zwei junge Mädchen des Instituts nachts an LKW-Fahrer vermietet. Als er sich jedoch in eines der Mädchen verliebt und sie gegen ihren Willen von ihrer entwürdigenden nächtlichen Arbeit abhalten will, schlägt der Stamm mit gnadenloser Härte zurück.

the.tribe.2014.still2 THE TRIBE ist ein überaus faszinierendes wie verstörendes Filmerlebnis. Die tief in der osteuropäischen Filmkultur verwurzelt Bildsprache bietet extrem lange, genau abgezirkelte statische Aufnahmen ebenso wie lange Steadycam-Fahrten. Slaboshpytskiy verzichtet in seinem Film auf jegliche Musik, verleiht den Bildern damit etwas Naturalistisch-dokumentarisches. Das filmische Auge bleibt unemotional – ein nüchterner Beobachter: ob es sich um den minutenlangen, militärisch anmutenden Einzug der Schüler in die Klassenräume oder eine nach Lars von Triers NYMPHOMANIAC weitere Abtreibung in Echtzeit handelt. Dem Zuschauer wird so einiges zugemutet. Eine brachiale wie ernüchternde Rosskur bar jeder Romantisierung, in der selbst Liebe zum unerwünschten Gefühl verkommt. Selten war der Film Noir so kalt.

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Plemya (The Tribe), Ukraine/Niederlande 2014 | Regie/Buch: Miroslav Slaboshpitsky | Mit: Grigoriy Fesenko, Yana Novikova, Rosa Babiy, u.a. | Laufzeit: 130 Minuten, noch kein deutscher Verleih.