Von Bodo Traber
Einst während der Reagan-Ära galt John Milius – zumindest in den Augen europäischer Kritiker – als Vertreter eines schamlos neorreaktionären Hollywood, seine Drehbücher zu den DIRTY HARRY-Filmen rochen nach Selbstjustiz-Ideologie und seine Blockbuster CONAN THE BARBARIAN (1981) und RED DAWN (1984) schienen Exempel eines neuen kryptofaschistischen Monumentalkinos. Eine Generation später kannte den Schrecken der damaligen Feuilletons nur noch als gemütlichen, vollbärtigen Zeitzeugen in DVD-Dokus zu Klassikern der 70er Jahre. Und tatsächlich war Milius eine der zentralen Erscheinungen des kommerziellen New Hollywood, schuf mit THE WIND AND THE LION (1975) und BIG WEDNESDAY (1977) nicht nur zwei leider fast unbekannt gebliebene Marksteine, in denen sich visuelle Wucht und erzählerische Poesie vereinen, sondern war zudem als Autor an einigen der wichtigsten Produktionen jener Epoche beteiligt, darunter Sydney Pollacks JEREMIAH JOHNSON (1972), Steven Spielbergs 1941 (1978) und Francis Coppolas APOCALYPSE NOW (1979). Gern erzählt er die Geschichte, dass sich die Freunde George Lucas, Spielberg und Milius gegenseitig einen Prozentpunkt Gewinnanteil zusicherten, als sie zeitgleich an ihren Filmen STAR WARS, CLOSE ENCOUNTERS und BIG WEDNESDAY arbeiteten, und Milius damit trotz eines kolossalen Flops zum Millionär wurde. Legendär ist auch, dass die Dialogszene um die Katastrophe der „Indianapolis“ in JAWS (1975) oder Dirty Harrys klassisches “Make My Day!“ in SUDDEN IMPACT (1982) aus Milius’ Feder stammen sollen. Noch zu Tarantinos INGLORIOUS BASTARDS steuerte er einige markige Dialoge für Brad Pitt bei.
Mit DILLINGER legte Milius sein Regiedebüt vor, 1973 für Sam Arkoffs AIP entstanden, aus der einst die Klassiker Roger Cormans sowie die ersten Filme einer Großzahl später berühmter Regisseure hervorgingen. Der action- und leichenreiche Gangsterfilm um Taten und Tod des „Public Enemy Nr.1“ der frühen 30 Jahre, John Dillinger, fügte sich nahtlos in eine feste Reihe des modernen Hollywood Kinos um die Biografien authentischer wie fiktiver Gangster der Depressionszeit ein. Roger Cormans THE ST. VALENTINE’S DAY MASSACRE (1967) hatte die klassische Periode beendet, während Arthur Penns BONNIE AND CLYDE (1967) eine neue Ära einläutete, die von Martin Scorsese etwa mit BOXCAR BERTHA (1972), Robert Altman mit THIEVES LIKE US (1973), Jonathan Demme mit CRAZY MAMA (1974) und Corman selbst mit BLOODY MAMA (1970) fortgeführt wurde. (Parallel dazu entstanden die TV-Filme Dan Curtis’ über Machine Gun Kelly und die Gangsterschlacht von Kansas City, erst genannter nach einem Drehbuch von John Milius.)
Schon seit Howard Hawks’ – der Karriere Al Capones nachgebildetem – SCARFACE (1930), dem Urvater des Genres, war der Gangsterfilm immer wieder in der Kritik und Gegenstand zensorischer Eingriffe, so dass sich die großen Studios letztlich zu einem Moratorium entschlossen. Biopics über authentische Gangster galten fortan als selbsterklärtes Tabu – zu sehr befürchtete man einen Effekt falscher Heroisierung und die Konflikte mit dem Hays Office wegen der Gewaltdarstellung. Gerade John Herbert „Snake Eyes“ Dillinger (1903-1934), der zwischen September 1933 und Juli 1934 eine Reihe von Großbanken überfiel, wurde in der Presse der Depression zum Medienstar und in der öffentlichen Meinung zu einem neuen Jesse James (der damals seinerseits noch als moderner Robin Hood galt). Noch bis in die 50er Jahre waren Filmbiografien großer Gangster die Domäne unabhängiger Produktionen.
Mit BONNIE AND CLYDE begann das New Hollywood mit einem Knall, nach dem die Filmgeschichte nicht mehr dieselbe war. Erstmals seit den klassischen Jesse-James-Filmen Henry Kings und Nicholas Rays wurden die Outlaws zu Sympathieträgern, die sie verfolgenden Texas Ranger zu brutalen Killern. Sechs Jahre später mokiert sich Dillinger in Milius’ Film über jene vermeintlichen Amateure der Clyde-Barrow-Gang, die gerade in Texas zusammengeschossen wurden, und fügt den Film damit selbst in eine filmhistorische Tradition. BONNIE AND CLYDE wirkte wie ein amerikanisches Pendant zu Jean-Luc Godards A BOUT DE SOUFFLE (1960), dem Initialfilm der französischen Nouvelle Vague, etablierte aber das Road Movie als eine der wichtigsten Gattungen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Unter dem Eindruck des Italowestern hatte zudem ein Strudel exzessiver Gewalt auch in den Genrefilm der amerikanischen Regisseure Einzug gehalten, und Milius’ DILLINGER setzte in einer Woge naturalistischer Krassheit einige neue Akzente. Kultstar Warren Oates brilliert in der Titelrolle des so charmanten wie egozentrischen, so sensiblen wie brutalen Bankräubers, der zum Schrecken, Phantom und Faszinosum einer zerfallenden, zunehmend der staatlichen Kontrolle entgleitenden Gesellschaft wurde. Die brutalistischen Menschenjagden des FBI unter J. Edgar Hoover waren der letzte eiserne Versuch der Regierung eine Ordnung wiederherzustellen, an deren Stelle in weiten Teilen des Landes eine Art Bürgerkrieg getreten war. Die Gangster, die sich nahmen, was sie wollten, und die verhassten Banken schröpften, wurden prominent wie Film- oder Sportstars; ein Hauch ‚Frontier’-Geist wehte wieder durch den Süd- und Mittelwesten. Schon, um dem breiten Volk kein falsches Vorbild zu bieten, reagierte die Ordnungsmacht mit gnadenloser Härte. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die mit der Prohibition in großen Städten wie New York, Chicago, St. Louis und Kansas City eingesetzt hatte, ergriff nun ganze Staaten. Der Aktionsbereich von Dillingers Banden reichte von Wisconsin bis Arizona.
Milius’ Film wird oft als Remake des von Max Nosseck gedrehten ersten DILLINGER von 1945 eingestuft, was nicht ganz zutrifft. Wo sich Nossecks Version (sehr frei nach den tatsächlichen Ereignissen) auf Dillingers Aufstieg und den Verrat durch seine Freundin konzentriert, personalisiert Milius den Krieg der Regierung gegen die Verbrecher in einer privaten Fehde Dillingers mit dem eisenharten FBI-Agenten Melvin Purvis (Ben Johnson), der beim Massaker von Kansas City einen Freund verloren hat und die dafür verantwortlichen Gangster durchs ganze Land jagt und der Reihe nach erledigt – bis nur Dillinger selbst übrig ist, der bereits eine neue Bande inzwischen prominenter Outlaws um sich geschart hat, darunter „Baby Face Nelson“ und „Pretty Boy Floyd“. Sie alle enden im Kugelhagel. Die finalen Exzesse zeigen sich als Konfrontation eines Systems, das mit allen Mitteln seinen Machterhalt durchsetzt, mit in die Enge getriebenen Individuen, die – so verzweifelt wie vergeblich – um ihr Überleben kämpfen. Purvis erweist sich dabei als ebenso skrupellos wie seine Gegner, die er abserviert, als würde er Ungeziefer vertilgen. Danach steckt er sich eine rituelle Zigarre an. (Das FBI unterstützte die Herstellung dieses Films nicht.) Dillinger erwischt er nur, weil dieser von einer Bekannten – der „Lady in Red“ Anna Sage – verraten wird, die von Purvis dazu erpresst und danach ebenfalls fallengelassen wird.
Nicht ohne Ironie schildert DILLINGER den Kult um den populären Gangster, der bei Verhaftungen von Reporterpulks interviewt wird und nach erfolgreichem Ausbruch noch mit dem Fluchtwagen und Geiseln darin als erstes wieder eine Bank überfällt. Und ebenso wie zwischen Ernst und Albernheit, historischer Tatsache und dichterischer Freiheit tänzelt der Film auch auf der Grenze zwischen Naturalismus und Spekulation. Die Zuckungen eines am Boden liegenden Sterbenden, in dessen Körper noch eine weitere MP-Garbe gefeuert wird, das Überfahren einer Frau mit Kinderwagen auf der Flucht schildert Milius en passant und ohne Betonung, aber ihre Beiläufigkeit lässt die Gewalttaten stellenweise schockierender wirken als die Zeitlupen etwas eines Sam Peckinpah, an dessen Œuvre dieser Film mehrfach erinnert. Nicht nur scheinen die ironisch-sympathische Zeichnung der Outlaws und das Menschenjagd-Motiv DILLINGER in eine Reihe mit THE WILD BUNCH (1969) und PAT GARRETT AND BILLY THE KID (1973) zu rücken, auch die Besetzung der beiden Hauptrollen wirkt wie eine Peckinpah-Hommage: In THE WILD BUNCH spielten Oates und Johnson ein Brüderpaar. Überhaupt erhebt die hier versammelte Darsteller-Riege Milius’ DILLINGER heute zum Kultfilm und vermutlich populärsten Werk des Regisseurs. Neben Warren Oates und Ben Johnson sind Harry Dean Stanton als Homer Van Meter, Geoffrey Lewis als Harry Pierpoint, Steve Kanaly als Pretty Boy Floyd, Michelle Phillips (von The Mamas and The Papas in ihrem zweiten Filmauftritt nach Dennis Hoppers THE LAST MOVIE) als Dillingers Freundin Evelyn „Billie“ Freschette und – unglaublich! – Richard Dreyfuss als Baby Face Nelson zu sehen.
Die deutsche Synchronfassung, trotz hochkarätiger Besetzung (u.a. Arnold Marquis) angereichert mit Sprüchen ausgewählter Flapsigkeit und Anzüglichkeit, rückt den Film ein kleines Stück weiter in Richtung Schmuddelkino als er es eigentlich verdient und fällt zudem durch explizite Veränderungen des Originals auf: Eine Standardszene vieler FBI-Filme (vgl. THE F.B.I. STORY oder THE PRIVATE FILES OF J. EDGAR HOOVER) ist die Verhaftung „Machine Gun Kellys“, der sich unbewaffnet ergibt und dabei mit dem Satz „Don’t shoot, G-Men!“ einen neuen Spitznamen für die Agenten erfindet, der ihnen lange erhalten bleiben wird. Hier ist es Purvis, der die Verhaftung vornimmt (in Wahrheit war Purvis dabei nicht anwesend) und sich dabei königlich über die Wortschöpfung „G-Men“ („Government Men“) amüsiert. Die deutsche Fassung erfindet dafür wegen klarer Übersetzungsprobleme einen völlig neuen Dialog, in dem Kelly die Agenten um Gnade bittet, weil er sie für Komplizen hält, die sich an ihm rächen wollen.
Es gehört zu den großen Kuriosa der Distribution, dass es zu Max Nossecks DILLINGER auf der US-DVD einen – sehr interessanten – Audiokommentar von John Milius gibt, Milius’ eigenem DILLINGER aber dieselbe Ehre auf keiner Veröffentlichung zuteil wurde. Dafür bekommt man ihn hier in neuer Abtastung und schöner Qualität, zudem immerhin einem informativen Booklet und als überraschendster Beilage einer alternativen, instrumentalen Titelmusik.
Neben weniger bekannten Bearbeitungen wie YOUNG DILLINGER (1962) und THE LADY IN RED (1978) fand die Vita des Bankräubers vor allem durch Michael Manns PUBLIC ENEMIES von 2009, mit Johnny Depp als Dillinger und Christian Bale als Purvis, wieder auf die Leinwand, mit dem sich John Milius’ Version in Aufwand und historischer Genauigkeit sicher nicht ganz messen kann, demgegenüber der Klassiker aber bis heute der charmantere und unterhaltsamere Film bleibt.
JAGD AUF DILLINGER wurde aktuell, nach neuer Prüfung, von FSK 18 auf FSK 12 herunter gestuft. Da merkt man den Wandel der Zeiten noch deutlicher als an den Eintrittspreisen.
___________________________________________________________
Dillinger, USA 1973, Regie: John Milius, Mit: Warren Oates, Ben Johnson, Michelle Phillips, Richard Dreyfuss, Cloris Leachman, Harry Dean Stanton, u.a.
Anbieter: Explosive Media