Von Heinz-Jürgen Köhler
Ein fröhlicher kleiner Junge mit blonden Haaren und leuchtend grünen Augen. Er spielt, er strahlt, er flirtet mit der Schmalfilmkamera seines Vaters. Die ersten Lebensjahre von Kurt Cobain sind gut auf Film dokumentiert, ebenso die letzten. Auf beide Filmpools hatte Regisseur Brett Morgen Zugriff. 200 Stunden Musik- und Video-Material, außerdem 4000 Seiten Notizen und Skizzen sowie Songbücher und Kunstwerke wie Gemälde und Skulpturen standen Morgen zur Verfügung. Zuvor hatte der Amerikaner mit CROSSFIRE HURRICANE bereits eine Musik-Doku über die Rolling Stones gedreht. Mit einer verblüffenden Fülle an Material und einer begeisternden formsprachlichen Vielfalt zeichnet er nun das Leben des Sängers der legendären Grunge-Rockband Nirvana nach. Wie bekannt, beging Kurt Cobain 1994 Selbstmord – mit 27 Jahren. Auch Jimi Hendrix, Janis Joplin, Amy Winehouse und einige mehr starben durch eigene Hand oder Drogen in diesem Alter, um das sich eine Verschwörungstheorie des Pop rankt.
Das bezaubernde Kind, den stets unruhigen Knaben, den aggressiven Jugendlichen, den frustrierten Sinnsucher, den begeisterten und irgendwann auch erfolgreichen Musiker, das Idol zahlloser Musik-Fans, den Drogensüchtigen, das Opfer der Klatschpresse, den loyalen Ehepartner, den liebevollen Vater: Diese Stationen zeigt der Film von Cobain. Neben den hinreißenden Familienfilmen mit Klein-Kurt gibt es ausführliche Konzertaufnahmen. Wenn diese auch oftmals verwackelte Videoaufnahmen sind, spiegeln sie doch die ungeheure Faszination und Energie wider, die von Nirvanas Live-Auftritten ausgegangen sein müssen. Und natürlich ist der Film randvoll mit Nirvana-Musik – teils im Original, teils instrumental, etwa gespielt von Streichern.
Das Leben von Kurt Cobain erzählt MONTAGE OF HECK (wörtlich: „Collage aus der Hölle“; den Titel gab Cobain einem Audio-Tape mit Geräuschen, die er selbst aufgenommen hat) auf verschiedene Art und in unterschiedlichen Tonlagen. Zunächst sind da Interviews mit seiner Familie, mit Nirvana-Bassist Krist Novoselic und Cobains Ehefrau, Courtney Love. Soweit, so konventionell. Bemerkenswert dabei ist, dass der es Film vermeidet, Love zur bösen Macht zu stilisieren, die Cobain sozusagen ins Unheil getrieben habe (eine weitere Verschwörungstheorie des Pop, der Yoko-Ono-Mythos). Mutiger wird Regisseur Brett Morgen bei anderen Erzählformen: zum einen der Darstellung in Zeichentrickepisoden, zum anderen durch die Verwendung von Tagebucheinträgen und Zeichnungen von Cobain, die er direkt ins Bild rückt und teilweise auch computeranimiert.
Episoden aus dem Leben des Jugendlichen, der von Eltern- zu Stiefelternteil weitergereicht wurde, werden als sehr stimmungsvolle, stilistisch zurückgenommene Zeichentrickepisoden visualisiert. Mehrere dieser Episoden, von zwei verschiedenen Zeichnern, sind im Film verwendet. Noch umfangreicher ist die Darstellung der schriftlichen und zeichnerischen Dokumente von Cobain. Sätze und Slogans aus Tagebüchern sowie Zeichnungen und comicartige Kritzeleien wandern da über die Leinwand. Einmal wird sogar ein handschriftlicher Liedtext eingeblendet, wie die Untertitel beim Karaoke. Eine faszinierende, so noch nie gesehene Annäherung an eine Persönlichkeit wird durch diese Technik erreicht. Ein Triumph der Handschrift, der in dieser Form natürlich nur möglich war, weil so umfangreiches Material vorhanden war.
Dass in dieses Bild natürlich auch die Interpretation des Filmemachers mit einfließt, versteht sich von selbst. Und natürlich wird hier auch das Klischee des begnadeten Künstlers aufgegriffen, der an seiner Umwelt leidet – was ja vielleicht gar kein Klischee ist. Doch Brett Morgen pflegt einen absolut respektvollen Umgang mit seinem Protagonisten und vermeidet verkürzte Kausalzusammenhänge. Wieso der Mann, der so liebevoll mit seiner kleinen Tochter spielt (Frances Cobain, ausführende Produzentin des Films), seinem Leben so früh ein Ende setzte – niemand weiß es, und der Filmemacher gibt nicht vor, es zu wissen. Was bleibt, ist das breit gemalte Bild eines begnadeten Musikers und vielleicht ebenso großartigen Zeichners, dem die faszinierende Darstellung über Schrift und Zeichnungen umso mehr gerecht wird. Und natürlich die Musik, die – das wird beim Wiederhören im Kino klar – das Zeug zu unsterblichen Rockklassikern hat.
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Cobain: Montage of Heck, USA 2015 | Regie/Buch: Brett Morgen| Mit: Kurt Cobain, Wendy O’Connor, Don Cobain, Jenny Cobain, Kimberly Cobain, Tracy Marander, Krist Novoselic, Courtney Love | Laufzeit: 145 Min., Verleih: Arts Alliance (Kinostart: 09.04.2015)