Blick in einen unzuverlässigen Abgrund. Von Heiko Hanel

Von Heiko Hanel

Zwei Jungen im Wald. Zwillinge. Der Wald ist sehr tief und voller Geheimnis. Der Vorspann hat noch nicht begonnen und wir sehen sie im See schwimmen, auf Bäume klettern, in dunklen Wasserrohren verschwinden. Sie erkunden die Natur nicht nur, Sie wollen sie bezwingen und suchen das Risiko in Mutproben. Sie wohnen in einem modernen Haus aus Beton am Waldrand in einem großen Maisfeld. Das Haus scheint dem Wald zu trotzen oder doch nicht? Die Zivilisation ist weit weg und die Zwillinge sind auf sich gestellt. Eines Tages kommt die Mama zurück. Aber ist das wirklich ihre Mama? Nach einer Operation trägt sie Bandagen im Gesicht. Sie ist sehr ungeduldig mit ihren Söhnen. Sie ist böse und verbietet Dinge. Vorher muss sie anders gewesen sein denn die Zwillinge denken, dass nicht ihre Mutter sondern vielleicht ein Monster oder etwas Anderes zurückgekehrt ist. Sie haben Angst vor ihr. Aber sie sind auch mutig und willens, die Wahrheit über den Verbleib ihrer Mama aus der Fremden herauszukitzeln. Nicht nur kitzeln.

ich.seh.ich.seh.2014.cover2 Severin Fiala und Veronika Franz haben sich nach ihrem grandiosen aber leider sehr gefloppten KERN konsequent in die Welt von Kindern hineingedacht, die sich während der Abwesenheit der Mutter selbst genug sind. Sie beobachten das geheimnisvoll veränderte Wesen mit einer Mischung aus Angst und Neugier. Auf jede Kontrollübernahme seitens der Mutter reagieren sie einerseits verzweifelt, andererseits aber auch hoch organisiert. So wie Kinder zum Beispiel einen Käfer zerteilen um dessen Innenleben zu ergründen. Das Regieduo zeigt uns die Welt zwar durch Kinderaugen, macht aber auch klar dass die Wahrheit anders aussehen könnte. Der Grund für die Gesichtsoperation der Mutter bleibt lange im Dunklen. War es ein schrecklicher Unfall? Oder eine Schönheitsoperation? Wo ist eigentlich der Vater der Kinder? Dem Zuschauer fehlen Informationen. Eine eindrückliche Rolle spielt das Designerhaus, das mit seiner strengen geometrischen Architektur direkt am Waldrand steht. Gefängnis und Experimentierfeld zugleich, erinnert es mit seinen dunklen und hellen Bereichen an das ebenso unpersönliche und festungsartige Anwesen aus Lost Highway. An der Wand hängen großformatige Modefotos, in denen die unscharfen Gesichter der abgebildeten Frauen ebenso schlecht zu erkennen sind wie das wahre Gesicht der Mama. Die suggestiven Bilder von Kameramann Martin Gschlacht (IM KELLER, REVANCHE, WOMEN WITHOUT MEN, LOURDES) und der meisterhafte Schnitt von Michael Palm lassen erst im Kopf des Zuschauers ein vollständiges Bild der Ereignisse entstehen, das sich aber letztlich auch als unzuverlässig herausstellt. Die Zwillinge halten Schaben in einem Terrarium. Eines Tages gesellt sich noch eine verwilderte Katze dazu. Die neue Mama verwendet die Tiere als Waffe im Kampf gegen ihre Kinder. Oder doch nicht? Szenen, an die ich mich erinnern konnte, befanden sich gar nicht wirklich im Film. Erst bei der zweiten Sichtung glaubte ich den Regisseuren, die in unserem ausführlichen Interview beteuern, dass sie nur spielen wollen. Mit dem Zuschauer. Und mit den Protagonisten, die trotz aller Verspieltheit grenzenlosen Schrecken erlebt haben und am Ende des Films erneut erleben werden. Auch wenn hier Genremotive aufgegriffen werden, weidet sich ICH SEH ICH SEH nicht an Referenzen sondern ordnet seine traumwandlerische Inszenierung einem inneren Zusammenhalt unter. ICH SEH ICH SEH ist grandioses atmosphärisches Horrorkino, dessen Größe man eigentlich erst mit dem Wissen um mögliche Wahrheiten mit der zweiten Sichtung richtig erkennen kann. Wo man dann gleich sein unzuverlässiges Gedächtnis überprüfen kann.

ich.seh.ich.seh.2014.still Zum ausführlichen Interview mit den Filmemachern Severin Fiala und Veronika Franz.

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Ich seh ich seh, Österreich 2014 | Regie/Buch: Severin Fiala und Veronika Franz, Kamera: Martin Gschlacht | Mit: Susanne Wuest, Elias Schwarz, Lukas Schwarz , u.a. | Laufzeit: 99 Minuten, Verleih: Koch Media (Kinostart: 02.07.2015).