Von Lukas Stern
„Die Zigeuner werden geschlagen, und die Rumänen sind duldsam und liebevoll wie Jesus“: Radu Jude dreht einen Geschichtsfilm, der wenig Geschichte braucht.
Das Ahistorische in der Geschichte
Dennoch: AFERIM! zeigt eine Welt, die mit einem Fuß noch im Naturzustand, im archaischen Durcheinander steht; Gesetze sind in Ansätzen präsent. Sie regeln die Besitzverhältnisse zwischen Herren und Sklaven und zwischen Männern und Frauen. Letztere dürfe man beispielsweise nur mit weniger harten Schlägen bestrafen, da sie dumm seien und daher nicht recht wissen können, was sie anrichten. Der Weg des Hauptmanns und seines Sohnes, die auf der Suche nach einem flüchtigen Sklaven, einem Roma – einer „Krähe“, wie man ihn nennt –, sind, führt durch steinige Landschaften, Flüsse, Wälder, kleine Hütten und Ställe. All das ist weit davon entfernt, im Sinne einer historistischen Pseudoevidenz eine konkrete Situation in der Geschichte verlebendigen zu wollen: Radu Jude pflanzt der Historie das Ahistorische ein, um überhaupt erst zur Historie durchzudringen. Am Ende wird der Film sein archaisch-ursprüngliches Niveau nicht verlassen und dennoch die Sollbruchstellen geschichtlicher Fortentwicklung offengelegt haben: die Leibeigenschaft, die Emanzipation der Frau oder die Grenzverhältnisse. Das ist das Fabelhafte, das Pasolini’sche, dass er die Geschichte, ein faktisches Datum, eine reale Periode des Wandels, dorthin transportiert, wo ihr Einfluss gar nicht waltet, in die Steinwüste, in den Fluss.
Der Großteil des Films führt die leere Landschaft in einer Totalen vor. Der untere Teil des Bildes zeigt die Steine in der einen Grauschicht, die obere Hälfte den Himmel in einer anderen Grauschicht. Aus der einen Richtung kommen die beiden Reiter ins Bild, um es bis zum anderen Bildrand zu durchziehen. Was auch immer man sich zu sagen hat – und gesagt wird ständig etwas; in AFERIM! wird pausenlos gesprochen –, wird gebrüllt, selbst wenn man sich ganz nah gegenüber steht; selbst die Fingerpuppen im Kasperletheater, das die Kinder amüsieren soll, kennen nur das Plärren. Es gibt keine andere Form der Kommunikation als Geschrei. Es gibt auch keine Modulation im Tonfall. Ob nun der Sklave gerügt, der Sohn belehrt, die Frau umgarnt wird, alles geschieht mit demselben Ausdruck. Wie es auch wieder und wieder dieselben Landschaften sind, die durchreist werden, dieselben Lebensgrundsätze, die immer nach dem Prinzip eines „Besser so als so“ aufgebaut sind. „Scheiß auf Schönheit“, sagt der Vater zum Sohn, als dieser einmal die Pflanzen im Fluss bestaunt. Schönheit ist kein Wert in dieser Welt; später wird der Sklave Carfin (Cuzin Toma), mit einem Holzbalken an den Beinen vor den Pferdesattel geschmissen wie ein Gepäcksack, von Paris, Wien und Leipzig erzählen, davon, dass dort unzählige Prinzessinnen leben und die Diener nicht geschlagen werden. Wie ein Märchen hört es sich an, und als Märchen wird es auch verstanden.
Der latente Naturzustand
Zu Beginn der Reise wird am Wegesrand ein alter Priester aufgegabelt. Die beiden Gesetzeshüter haben viele Fragen an ihn, sie lassen sich die Welt erklären. „Zigeuner“ seien von Gott verfluchte Altägypter, heißt es. In einer der großartigsten Szenen im Film – eine absolute Sketcheinlage – watscht der Priester die gesamte europäische Welt ab. Natürlich brüllt er dabei: Die Griechen denken viel, die Deutschen essen viel, die Italiener lügen, die Zigeuner werden geschlagen und die Rumänen sind duldsam und liebevoll wie Jesus Christus. Der immer noch latente Naturzustand, der durch die fragile Gesetzeslage (von deren Exekution der Film handelt) durchschimmert, die Feindschaft und das ursprüngliche Vorurteil gegenüber dem Nächsten, dieser Zustand, der hier noch als Klamauk inszeniert wird, wird sich gegen Ende noch in seiner brutalsten Variante zeigen. Auch das Brüllen und das Geschrei werden dann nicht mehr angemessen sein; Vater und Sohn werden gelernt haben, leiser zu sprechen: „Du wirst zur Armee gehen, ein, zwei Kriege mitmachen und Oberst werden“, sagt der Vater in einem um Beruhigung bemühten Tonfall. Allein das ist eine gigantische Bewegung angesichts der kargen, reduktionistischen Inszenierungsweise. Dass man gar nicht schreien muss wie ein Affe im Gehege, ist vielleicht der erste Schritt aus dem Naturzustand.
Erschienen auf Critic.de
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Aferim!, Rumänien/Bulgarien/Tschechische Republik 2015, R: Radu Jude, D: Teodor Corban, Mihai Comanoiu, Cuzin Toma, Alexandru Dabija, Luminita Gheorghiu, Victor Rebengiuc, Alberto Dinache, Mihaela Sirbu, Alexandru Bindea, Adina Cristescu, Laufzeit: 108 Min.