Von Matthias Ehrlicher
Es ist immer wieder großartig zu sehen, wie aktuell ein Film sein kann – wenn man bedenkt, dass es im Schnitt drei bis zehn Jahre dauert, einen Kinofilm zu realisieren. Dann noch nahe am Puls der Zeit zu sein, gerade, wenn er Ereignisse schildert, die wie in diesem Fall über zwanzig Jahre her sind, das grenzt schon an ein Wunder. Dieses Wunder gelingt Regisseur Burhan Qurbani und Autor Martin Behnke mit ihrem Film WIR SIND JUNG. WIR SIND STARK. beeindruckend und erschreckend zu gleich.
Akribisch, fast protokollhaft erzählt der Film aus drei fiktiven Perspektiven, was am 24. August 1992 in Rostock passierte. Stellenweise auch, warum. Da ist der überforderte Lokalpolitiker Martin (Devid Striesow), der angesichts der tagelangen fremdenfeindlichen Ausschreitungen vor der Asylbewerberunterkunft „Sonnenblumenhaus“ versucht die Ordnung irgendwie aufrecht zu erhalten. Alle spüren, dass sich die Situation gefährlich zuspitzt. Er quält sich mit seiner Hilflosigkeit, Parteiquerelen, administrativem Zuständigkeitsgerangel und sitzt deshalb lieber im Garten auf der Rudermaschine als etwas zu tun. Den Kontakt zu seinem Sohn Stefan (Jonas Nay) hat er schon lange verloren.
Die Truppe wird von einem überzeugten Neonazi zusammen gehalten, aber rechtes Gedankengut treibt sie nicht an. Eher Bier, Mädchen, Ablenkung und der Versuch, sich an irgendetwas festzuhalten, das nicht gleich wieder zerbricht. „Du gehörst nicht hierher“, wird ein Kumpel gleich zu Anfang zu Stefan sagen. Der Kumpel gibt sich als strammer Nazi, trauert aber dem Sozialismus nach und wird sich bald darauf das Leben nehmen. Nichts passt in diesem Leben für die Jugendlichen zusammen. „Total frei sein bedeutet total alleine sein“. Stefan trudelt, taumelt passiv vor sich hin. Was dem Film dramaturgisch nicht guttut – es gibt zu viele passive Figuren – , aber aus Sicht des Jungen nachvollziehbar ist.
Er ist ein Außenseiter, allein schon wegen seines gutbürgerlichen Elternhauses. Und so kommt es, wie so oft, dass der Außenseiter gnadenloser agiert, um es den Freunden, aber vor allem sich selbst zu beweisen. Also wird er in der Nacht den ersten Molotowcocktail in das in diesem Moment bewohnte Wohnheim werfen. Der Mob feiert ihn frenetisch. Zum ersten Mal seit langem fühlt Stefan sich gut. Sein Vater steht getarnt in der Menge. Zuerst hat er noch versucht, der „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ grölenden Masse ein „Wir sind das Volk“ entgegen zu halten. Doch kaum einer aus der Menge schließt sich an. Er geht unter. Als Martin sieht, wie sich sein Sohn auf dem brennenden Balkon von den Massen feiern lässt, hat er keine Kraft mehr einzugreifen.
Am Mittag, bevor das Haus von Lien brennt, hat der Lokalpolitiker Peter (Thorsten Merten) auf eigene Faust die Flüchtlinge in Umfeld des „Sonnenblumenhauses“ evakuieren lassen. Doch die Hoffnung, dass die Situation sich jetzt beruhigt, führt ins Leere. Die Menge fühlt sich um ein Schauspiel betrogen. Also geht man ein Haus weiter. „Kanaken“ oder „Schlitzies“ ist doch eh wurscht, es gibt Freibier.
Es ist faszinierend zu sehen, wie das Team es schafft, die Zeit, die Atmosphäre vor Ort einzufangen. Kostüm und Ausstattung sind exzellent. Auch Yoshi Heimraths Kameraführung ist beeindruckend. Im ersten Teil des Films, in dem es hauptsächlich um die Clique geht, filmt er aus der Hand, bleibt nahe bei den Kids. Durch die schwarzweiße Bildgestaltung entsteht eine Verfremdung, die den Zuschauer bei aller Nähe auf Abstand hält. Die Zeit wirkt historisiert, vergangen, fremd und könnte doch aktueller nicht sein. Wenn es zur nächtlichen Attacke kommt, wird auf „Farbfilm“ gewechselt. Da sind wir im Hier und Jetzt. Wenn die Freunde auf Adrenalin und Bier Fernsehinterviews geben, wechselt der Film zwischen dem damaligen Fernsehformat und dem Filmformat hin und her. Da sind wir wieder Zuschauer und genau da, wo wir bei den Ereignissen damals auch waren, vor dem Fernseher. Und heute sind wir es wieder.
___________________________________________________________
Wir sind jung. Wir sind stark., Deutschland 2014, R: Burhan Qurbani, D: Jonas Nay, Trang Le Hong, Devid Striesow, Joel Basman, Saskia Rosendahl, Paul Gäbler, David Schütter, Jakob Bieber, Gro Swantje Kohlhof, Mai Duong Kieu, Aaron Le, Larissa Fuchs, Axel Pape
Anbieter: good!movies