Immer wieder wurden in der jüngeren Filmgeschichte Versuche unternommen, B-Movie-Genres der letzten Jahrzehnte zu aktualisieren und für eigene Filme zu nutzen. Meist erhalten dabei die ungestüme Energie, die Unverschämtheit und die Drastik der Splatter-, Erotik- und Trashfilme der Siebziger und Achtziger unsere Bewunderung. Merkmale, die längst auch die geheimen Wünsche eines Mainstreampublikums treffen. Am deutlichsten sieht man das an den Filmen von Quentin Tarantino, der die ganzen „Lass das Blut spritzen“-Eskapaden überhaupt erst salonfähig gemacht hat: Sie sind blutrünstig und schmerzhaft, immer noch. Gleichzeitig transportieren gerade Tarantinos Filme mit ihren B-Genre-Bezügen immer wieder emanzipatorische Inhalte.
Auch die Filme von Peter Strickland führen die B-Movie-Genres zu höheren Weihen, gehen mit der Materie aber ganz anders um. Sein zweiter Film BERBERIAN SOUND STUDIO (2012) referenziert zwar italienische Horrorschocker der Siebziger. Er zeigt aber nicht die gruseligen Elemente eines Hexen-Schänder-Sleaze-Movies, sondern lässt sie einfach lässig aus. Sein letzter Film THE DUKE OF BURGUNDY (2014) ist angelegt wie ein Just-Jaeckin-Softsexfilm der Siebziger (remember: EMANUELLE, L’HISTOIRE D’O), noch schöner gedreht, doch statt zwei Frauen in Lingerie bei gefällig-erotischen Züchtigungsspielchen sehen wir, wie die edle Unterwäsche im Schaumbad von Hand gewaschen wird.
Real-life Transsylvanien
Selbst Stricklands Erstlingswerk KATALIN VARGA (2009), das zwar nicht auf dem Template eines Sleaze-Genres beruht, zeigt einen brutalen Inhalt auf unexplizite Weise. KATALIN VARGA ist ein Independent-Film, den Strickland in den Karpaten gedreht hat. Unaufgeregt führt er uns in eine mittelalterliche Welt, die einem Draculafilm entnommen sein könnte und in der moralische Zustände herrschen, als habe niemals ein aufgeklärter Sozialismus in Osteuropa Einzug gehalten. Scheinbar hat er das auch nicht, denn wir befinden uns glaubwürdig im Hier und Jetzt: Eine Frau, Katalin Varga (Hilda Peter), wird von ihrem Ehemann verstoßen, weil ihr Kind durch die Vergewaltigung eines anderes Mannes gezeugt wurde. Sohn Orban muss natürlich mit.
Als Katalin mit einem Pferdewagen das Dorf verlässt, plant sie, Rache an ihren ehemaligen Peinigern zu üben. Obwohl Katalins Reise durchaus gruselige Elemente aufweist – ihre angstvollen Blicke in den dunklen Wald, die Kinderlieder über reissende Wölfe, die mystifizierte Landschaft -, stehen immer die Suche nach und die Auseinandersetzung mit ihren damaligen Vergewaltigern im Zentrum. Den Anführer der damaligen Gang kann sie relativ kaltblütig und einfach ermorden. Doch dann erreicht sie den Hof des Mannes, der Orban gezeugt hatte, Antal (Tibor Palffy). Ein liebenswerter Ehemann mit verlorenem Blick – und wir Zuschauer haben schnell Mitleid mit ihrem Vergewaltiger und können uns plötzlich kaum noch entscheiden, ob die Mordlust unserer Protagonistin die richtige Antwort auf die lange vergangene Tat ist.
Splatter, Soft SM und das Unterbewusste
Wo in KATALIN VARGA der B-Movie-Genrefilm praktisch nicht mehr durchschimmert und inhaltlich kaum Relevanz hat (aber wichtig ist in Bezug auf die Atmosphäre des Films), macht BERBERIAN SOUND STUDIO ein blutrünstigeres Genre ganz direkt zum Thema: In einem italienischen Tonstudio der siebziger Jahre wird der spekulative Hexenschocker THE EQUESTRIAN VORTEX vertont. Hier ist Vergewaltigung nur eine Spielart unter anderen (wie Zerstückelungen, Folter etc.), dient einfach als Sensation für einen Film – und ein englischer Tontüftler, Gilderoy (Toby Jones), wird angeheuert, der so gar nichts mit dieser Welt am Hut hat und den ganzen Film hindurch verschüchtert durchs Studio irrt. Das Zerhacken von Melonen für zerplatzende Köpfe hält er gerade noch aus, als er dann aber ein „heisses Bügeleisen in Vagina“ vertonen muss (Wasser in heisse Pfanne schütten), kapituliert er vor der ungestümen italienischen Art. Wie Katalin und Antal in KATALIN VARGA wird der schüchterne Gilderoy in die Defensive gedrängt und muss sich mit Aggressionen aller Art auseinandersetzen: in seinem Fall mit dem selbstverliebten, überheblichen Gebaren des Produzenten wie des Regisseurs, mit der Vulgarität der Schauspielerinnen, der Genervtheit der Sekretärin. Muttersöhnchen Gilderoy wird in der klaustrophobischen Enge des Studios völlig eingeschüchtert. „Hast du die Regler verstellt? Das ist nicht dein Studio.“
In den ersten beiden Filmen Stricklands gingen Konflikte immer zu Lasten der Männer. Im dritten, THE DUKE OF BURGUNDY, kommt keiner mehr vor. Strickland versetzt uns in die wundervoll gefilmte Welt eines ländlichen Hofs irgendwo in Europa, auf dem die Professorin Cynthia (Sidse Babett Knudsen, die Präsidentin aus der dänischen Serie BORGEN) sich mit Faltern und Schmetterlingen beschäftigt und eine Liaison zu ihrer Hausangestellten und zugleich Schülerin Eveline (Chiara D’Anna) pflegt. Eine außergewöhnliche Liaison allerdings: die beiden unterhalten nämlich eine Liaison mit dominanter und submissiver Rollenspielerei. Cynthia ist dominant, Eveline unterwürfig. Das beginnt bei der einfachen Fußmassage und führt bis zu Aktionen wie der, dass Eveline über Nacht in eine Kiste eingesperrt wird. Werden will. Denn es ist die submissive Eveline, die eigentlich dominiert: Sie weist Cynthia oft mit Notizzetteln an, wie das erotische Züchtigungsspiel abzulaufen habe. Es gibt Momente, in denen Cynthia genug hat. Das merkt man allerdings eher unterschwellig. Bis auf Passagen, in denen sie – weil sie eine Anweisung vergessen hat – bittet: „Please, don’t be mad at me.“ Oder der Moment, an dem das Safe Word „Pinastri“ (hier überlappen sich Privatleben und Beruf: „Pinastri“ ist eine Falterart) einfach überhört wird.
Sound is taking over
Vieles ist unterschwellig in diesem Film. Wenn die Kamera durch das klassische Schlüsselloch guckt, dann sehen wir höchstens mal einen Hintern, niemals aber eine sexuelle Handlung. Der einzige lohnenswerte Blick auf wunderschöne Unterwäsche ist der erwähnte in ein Lavabo mit schaumigem Wasser. Eine ausgesucht schöne Einstellung allerdings, die sich mehrmals wiederholt (so, wie sich auch die Rollenspiele wiederholen). Genauso zeigt uns Strickland auch eine unglaubliche Kameraeinstellung in KATALIN VARGA zweimal: Wir sehen Katalin und ihren Sohn von hinten, vermeintlich auf der Pferdekutsche sitzend, so statisch wie das Tal vor ihnen. Einzig die Köpfe der beiden Pferde vor ihnen bewegen sich und der Wind pfeift geradezu mystisch. In dem Moment geschieht dasselbe, das im klaustrophobischen Berberian Sound Studio manchmal abends und bei Überarbeitung geschieht. Gilderoy starrt auf eine Leinwand voller Licht und das Bild wird so mystisch, dass der Sound die emotionale Führung übernimmt.
Es sind diese überaus sanften Filmpassagen in Stricklands Kino, die uns beinahe unmerklich einen Moment lang aus der Realität des Films in eine Traumsphäre lotsen. Strickland arbeitet dabei sehr stark mit einem subtilen Sounddesign (und Musik), das ähnlich funktioniert wie das faszinierende Sounddesign in Luis Buñuels BELLE DE JOUR: Immer wenn wir in Buñuels SM-Film die Kutschenglöcklein hören, entgleiten wir (und die Protagonistin Séverine) sanft und halb der Realität. Wie ein Tagtraum, der aber mehr als ein Traum ist. Wir erhaschen einen emotionalen Hauch der zweiten Welt Séverines, der Lust an Unterwerfung.
In Stricklands Filmen funktioniert die Tonebene in diesen Passagen ähnlich: Die Protagonisten und die Zuschauer verlassen die Ebene der Geschichte und werden in einen dämmrigen, und gleichzeitig luziden Zustand geführt. Ein Zustand, in dem man den Faden der Geschichte zu verlieren droht und gleichzeitig Gelegenheit erhält, sich zum Zustand der Protagonisten Gedanken zu machen. Nicht unbedingt rational, sondern emotional. In KATALIN VARGA ist das oft ein Soundscore, das auf verfremdeten Windgeräuschen beruht, in BERBERIAN SOUND STUIO wird man in jenen Momenten an experimentelle, droneartige Musik à la Fennesz erinnert und in THE DUKE OF BURGUNDY gesellen sich zu dieser Musik oft auch Flüsterstimmen („Be nasty“) – und einmal eine Fahrt aus dem tiefschwarzen Kontinent zwischen den Schenkeln Cynthias.
Happy, unhappy, undefined end
Diese undefinierbaren filmischen Zustandsbeschreibungen haben ihre Wurzeln in den psychologischen Dilemmas der Protagonisten, die im Zentrum stehen. Allen voran Gilderoy in BERBERIAN SOUND STUDIO. Er ist ein Muttersöhnchen (Brief von Mama: „Komm zurück, bevor die Küken flügge werden.“), das sich mit italienischen Mackern herumschlagen muss und mit Frauen, die sich in dieser Welt der selbstverliebten, vulgären Kerle zurechtfinden müssen und mit einem sanften Weichei gar nichts anzufangen wissen. Eine Schauspielerin erklärt ihm derweil die italienische Art, „Sie sollten unhöflich sein. (…) Hier fragt man nicht nur. Sie ballen die Fäuste, schreien, drängen die Schweine in die Ecke“, doch seine Versuche, etwas aggressiver aufzutreten, versanden.
Eines nachts steht Gilderoy auf, weil an die Tür gehämmert wird. Er findet aber niemanden vor, obwohl ein Film projiziert wird, in dem er sieht, wie er gerade vorher aufgestanden ist. Creepy wie in Lynchs LOST HIGHWAY, ein Wechsel ins Surreale wie bei Buñuel (z.B. in VIRIDIANA). In diesem projizierten Film jagen sich wilde Schnitte und Bildüberlagerungen, die das Spiel verdeutlichen, das mit Gilderoy getrieben wird. Oder das er empfindet. Und gleich darauf kontrastiert wird mit dem gemächlichen Naturfilm, den Gilderoy in seiner englischen Heimat vertont hatte. Auch er ist – wie Katalin – ein Fremder in neuen Landen.
Nachdem er allerdings vom Produzenten gezwungen wird, einer Sprecherin aus reinem Sadismus einen radikalen Störton immer noch lauter auf den Kopfhörer zu geben, ist die Grenze des Erträglichen überschritten. Was allerdings nicht bedeutet, dass Gilderoy schreitet oder aggressiv reagiert. Nein, er sitzt nachts allein und apathisch mit drei Kerzen auf dem Mischpult. Wieder verselbständigt sich etwas. Das Tonband. Wir hören einen religiösen, himmlischen Text, von Elisa gesprochen, die Projektion auf die Leinwand verströmt nurmehr weisses Licht – der Film endet. Es lässt sich nicht ganz erschließen, was mit Gilderoy passiert, aber wir wissen bestimmt, dass er eine emotionale Veränderung durchmachen wird. Eine Veränderung, die wir mitfühlen, die Strickland aber seltsam offen lässt.
Es ist diese Offenheit bei Konflikten, die Stricklands Filme ausmachen. Es gibt keine Lösung der Probleme. Weder können sich Cynthia und Eveline aus ihrem längst nicht mehr so glücklichen SM-Knoten befreien (und dabei ist ihre Sexualität ja nur ein Spiel), noch überwindet Gilderoy seine psychischen Barrieren in diesem Umfeld. In KATALIN VARGA löst sich der Knoten am Ende nur mit Toten. Was eine Geschichte zwischen zweien war, zwischen Katalin und Antal, ist nun eine Geschichte zwischen vieren: Antals liebenswerter Frau, und vor allem dem „gemeinsamen“ Sohn Orban, der sich mit Antal sehr gut versteht. Konfrontiert Katalin Antal, legt er seine Schuldgefühle offen: „I have to live with it. The fact that I was never punished is punishment itself.“ Trotzdem kann Katalin nicht einfach von ihrem Hass und ihren Rachegedanken ablassen: „My son is a constant reminder of you. The forests are a constant reminder from you.“ Und schliesslich meint sie: „My god, this is so much different from what I imagined it would be.“ Das dramatische Ende mit mehreren Toten soll hier nicht en detail vorweggenommen werden, doch so viel: Der Tod der Menschen verhindert eine psychologische oder emotionale Lösung des Problems – und es bleibt diese mystische Strickland-Einstellung auf dem Pferdewagen. Es bleibt ein Steckenbleiben in undefinierten Emotionen, ein Verstricktsein in unlösbaren emotionalen Zuständen.