Von Rudi Specht
DIE SUCHE beginnt in einem kleinen Dorf in Tschetschenien im Jahre 1999. Der zweite Tschetschenienkrieg wütet mit äußerster Brutalität, auch in diesem kleinen Dorf, in dem der neunjährige Hadji (eine unglaubliche schauspielerische Ausnahmeleistung des jungen Abdul Khalim Mamutsiev) mit seiner Familie lebt. Von der Kamera eines russischen Soldaten festgehalten, sehen wir wie Hadjis Eltern und seine Schwester Raissa einem Verhör auf offener Straße unterzogen werden, während Hadji mit seinem kleinen Bruder im Säuglingsalter die Szenerie vom heimischen Wohnzimmerfenster aus beobachtet. Er sieht wie seine Eltern angeschrien, bespuckt, geschlagen, getreten und schließlich erschossen werden. Seine Schwester nehmen die russischen Soldaten mit. Was mit ihr geschehen wird, ist jedem Zuschauer klar. In der Annahme, dass auch sie getötet wird, nimmt er seinen kleinen Bruder auf den Arm und flieht. Und dies in Bildern, die sich dem Zuschauer für immer in seine Seele einbrennen werden. Wir erleben, wie er sich gezwungen sieht, seinen Bruder bei einer Bauernfamilie auszusetzen, weil er erkennen muss, dass er sich nicht um ihn kümmern kann. Wir erleben, wie er in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, nach essbaren Abfällen sucht, die ihm dann von anderen Kindern wieder abgenommen werden. Wir erleben, wie sich schließlich die UN-Beauftragte Carole (Bérénice Bejo) des seit dem Vorfall stummen Hadji annimmt und ihn bei sich wohnen lässt. Wir lernen Helen, eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes kennen (ebenfalls fantastisch verkörpert von der überragenden Annette Bening), die verzweifelt um das Leben jedes einzelnen Kindes kämpft. Wir erleben, wie sich auch Raissa, die überlebt hat, auf die verzweifelte Suche nach ihren beiden Brüdern macht. Und auf der russischen Seite lernen wir den Musikstudenten Kolia (ebenfalls fantastisch: Maksim Emelyanov ) kennen, der aufgrund von Drogenbesitzes in der russischen Armee seine Strafe abbüßen muss, um schließlich in Tschetschenien seine Kameraden fallen zu sehen.
Dies alles wird von Oscar-Gewinner Michel Hazanavicius (THE ARTIST) unglaublich nüchtern, realistisch, unprätentios, fast dokumentarisch in Szene gesetzt. Und genau das ist es, was diesen Film so besonders macht. Carole interviewt für ihre Berichte an die UN immer wieder Frauen und Kinder. Diese Interviews erzählen uns die wahren Geschichten dieses Krieges, der von der UN trotz allem nicht als solcher angesehen wurde. Die Geschichten sind echt, die Tränen sind echt, die Menschen sind echt. Die Verzweiflung des Zuschauers wird echt, das Gefühl, dass es so nicht weiter gehen kann, die Gewissheit, dass dort draußen Kinder wie Hadji herumirren, deren Eltern getötet und Schwestern vergewaltigt werden.
DIE SUCHE führt dem Zuschauer ungeschönt vor Augen, wie es ist, alles zu verlieren, nur mit dem nackten Leben davonzukommen, verzweifelt, allein, verloren, vergessen von den westlichen Industrienationen, deren Einwohner andernorts in bequemen Kinosesseln sitzen und Tüten von Popcorn und literweise Limonade in ihre übergewichtigen Körper schütten, vielleicht danach noch einen Frozen Latte Wasweißich für mehrere Euro kredenzt bekommen. Doch Geld für eine Spende an die UNO-Flüchtlingshilfe oder an UNICEF haben sie nicht. Und zwischen den Klängen von Justin Bieber und Rihanna ist auch das Weinen der Kinder nicht mehr allzu laut zu vernehmen.
Als der Film endet, sitze ich noch eine ganze Weile allein in meinem dämmrigen Wohnzimmer und starre auf den schwarzen Bildschirm. Schließlich stehe ich auf und beschließe etwas zu tun. Für Kinder wie Hadji, der nur stellvertretend steht für all die Kinder, die auch heute in unseren Zeiten auf der Flucht sind und unsere Hilfe brauchen.
Danke für dieses Meisterwerk. Danke für das Aufwecken. Danke.
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The Search, Frankreich/Georgien 2014, Regie: Michel Hazanavicius, Mit: Bérénice Bejo, Annette Bening, Maksim Emelyanov, Abdul Khalim Mamutsiev, Zukhra Duishvili
Anbieter: Maritim Pictures