Das ewig Weibliche zieht uns hinan.

Michèle trägt das ewig Weibliche des Filmtitels, die ELLE, schon im Namen. Mich/èle. Dass sie aber als Protoyp ihres Geschlechts dienen soll, darf bezweifelt werden. Die von Isab/elle Huppert unglaublich vielseitig und lebendig gespielte Michèle ist eine unberechenbare, sehr männlich-forsche Frau. Eine dynamische und erfolgreiche Geschäftsfrau, die mit ihrer Freundin Anne eine Computergame-Entwicklungsfirma aufgebaut hat, aber auch eine Frau, die immer wieder gesellschaftliche Konventionen ignoriert. Doch vorerst lernen wir Michèle ganz anders kennen: Gleich in der ersten Szene des Films wird sie nämlich in ihrer Wohnung überfallen und brutal vergewaltigt.

Wer nun erwarten würde, die starke Frau gehe zur Polizei, sieht sich getäuscht. Wir erfahren erst später, was für ein dunkles Ereignis sie daran hindert und sind bass erstaunt, wie sie ihr Erlebnis bei einem Nachtessen im Restaurant freimütig erzählt. Die Freundesrunde erstarrt. Ihre Freundin Anna bittet den Wein einschenkenden Kellner, sich doch rasch für ein paar Minuten vom Tisch zu entfernen.

Genauso unkonventionell verhält Michèle sich auch in anderen Situationen und demaskiert damit auch die Lebenslügen und kleinen Heucheleien der Bourgeoisie. Verhoeven lässt die sozialkritischen Filme Claude Chabrols aufleben (der seinerseits übrigens sieben Filme mit Isabelle Huppert gedreht hat), wenn er Michèles rund 80jährige Mutter mit ihrem jungen Gespielen, Michèles dümmlichen Sohn mit dominanter Prollfreundin oder den Ex-Mann, der eben doch nur Studentinnen verführen kann, porträtiert. Und wie bei Chabrol findet sich auch bei Verhoeven viel Verborgenes und Verdrängtes in den Hinterzimmern und Kellern der gutbürgerlichen Stuben.

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Doch Verhoeven schildert nicht nur Intrigen, Dummheit und Geilheit des Bürgertums, sondern wirft auch einen psychologischen Blick zurück in die Vergangenheit, zu den Ursprüngen der Probleme und Psychosen. Ganz im Stil und der Freudschen Thrillerkonventionen Hitchcocks erfahren wir, weshalb Michèle nicht zur Polizei ging: Ihr Vater vollstreckte in der Nachbarschaft einen Massenmord, als Michèle noch ein kleines Mädchen war. Die Bilder der Tat haben sich derart ins kollektive Gedächtnis der französischen Nation gebrannt, dass Michèle und ihre Mutter auch Jahrzehnte nach den Morden nach jeder medialen Aufarbeitung des Dramas erneut Opfer von Tätlichkeiten und Beschimpfungen werden. Michèles Gelassenheit den äußeren Angriffen steht die Ungelöstheit ihrer psychischen Leiden gegenüber. Und die werden durch die Vergewaltigungen aufgebrochen. Michèle findet darin die Möglichkeit, Begehren und Ausgeliefertsein in eine neue Balance zu setzen.

Überhaupt liefert Verhoeven, wie in BASIC INSTINCT, die moderne Version eines Hitchcock-Thrillers. Mit dem schwarzen Humor des späten Hitchcock (FRENZY, FAMILY PLOT), mit dramaturgisch prägnanten Metaphern wie z.B. dem beinahe unmöglichen Schließen der Fenster während eines orkanartigen Sturms (vgl. die stürmische See in BASIC INSTINCT, bzw. das zerstörte Fenster im Sturm in MARNIE) und nicht zuletzt mit dem subtilen, untermalenden Einsatz der Musik schafft er auch in Szenen eine spannungsgeladene Zuschauerführung, wie sie heutzutage kaum noch so pointiert in Szene gesetzt wird.

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Und wie so viele Filme von Hitchcock psychische Befreiungsfilme sind, so befreit sich auch Michèle im Verlauf des Films von ihrer Psychose. Ihre trotzig-angriffige Art verleitet sie dazu, sich auf das gefährliche Spiel mit dem Vergewaltiger einzulassen und zusammen mit anderen Ereignissen ihr Kindheitstrauma zu überwinden. Wie sehr hier der schwarze Vergewaltiger auch einfach ein inneres, psychologisches Phantom sein könnte, mag dahingestellt sein. Tatsächlich aber erzählt Verhoeven die Story so, dass die Vergewaltigungen einfach ein Mindfuck, eine Imagination sein könnten – und zumindest zum Teil auch sind. Denn in der Mitte des Films ermordet Michèle ihren Vergewaltiger brutal, was sich bei seinem nächsten Auftauchen als reine Wunschvorstellung herausstellt. Mit den Vergewaltigungen trägt Michèle die Kämpfe in ihrer Psyche aus. Im Verlauf des Films wird aus der getriebenen, toughen Frau die Frau, die mit sich ins Reine gekommen ist. Nicht ohne ironische Anspielungen da und dort.

Verhoevens Verfilmung von Philippe Djians Roman „OH …“ ist auch das Porträt einer durchsetzungsfähigen Frau. Paradebeispiele in der jungsdominierten Arbeitswelt gibt’s zuhauf. Ein verdächtiger Junge muss gar einmal die Hosen runterlassen, einen anderen selbstbewusst-arroganten Schnösel zitiert sie vor versammelter Menge vor sich und fertigt ihn sachlich und souverän ab. Ihrem Exmann fährt sie schon mal aus Spaß die Stoßstange seines Autos ab und als ihre Mutter feierlich die Eheschließung mit ihrem ca. 50 Jahre jüngeren Lover bekannt gibt, lacht Michèle verächtlich in die Runde. Sie ist voller Unverschämtheit und Aggressivität. (Witzig ist übrigens, wie ihr dümmlicher Sohn sich eine ebenso aggressive, dominante Frau zur Gattin nimmt, obwohl er von Anfang an von der gedemütigt wird. Er wählt sozusagen die Mutter.)

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Michèles Geschäftspartnerin und beste, manchmal intime Freundin Anne (die sogar Michèles Sohn gesäugt hat) entspricht eher dem klassischerweise als modern angesehenen Frauenbild. Sie wird von ihrem Mann mit Michèle betrogen. Als Michèle ihr das Verhältnis beiläufig und unsensibel gesteht, bricht Anne jedoch nicht die Freundschaft mit Michèle ab, sondern nutzt genau dieses Negativ-Momentum, um sich von ihrem Mann zu trennen.

Nachdem sich die christliche Ehefrau des Vergewaltigers bedankt hat, dass Michèle als Vergewaltigungsopfer die perversen Triebe ihres Mannes von ihr abwendete, schwenkt Verhoeven mit sarkastischem Geist in die Zielgerade des Films. In einer wunderbaren Schlusseinstellung flanieren die beiden Freundinnen Michèle und Anne glücklich mitten durch einen Friedhof in eine neue Zukunft. Von nun an werden sie gemeinsam und fröhlich über Leichen gehen, oder: gemeinsam lassen sie die Leichen hinter sich.

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