Es ist Totensonntag, ein bitterkalter Novembermorgen. Ein seltsamer, aus Pflugscharen zusammengebundener Golem ohne Kopf entführt ein Kälbchen und fliegt mit ihm in den Wipfel einer Birke. Kalt und klar und gruselig ist das, bis zu dem Moment, in dem die schöne Liina sich aus ihrem Strohlager geschält hat und ihn entdeckt: „He, Kratt! Komm runter, es gibt Arbeit!“
Die Welt, in der Liina und die anderen Dorfbewohner leben, ist bevölkert von mythischen Wesen, Somnambulen, Werwölfen und „Kratts“, die der Teufel im Tausch für eine Menschenseele lebendig macht. Es ist auch eine Welt des Betrugs, in der die Angestellten des heruntergekommenen Gutshauses einen regen Handel mit gestohlenem Hausrat treiben und sogar die Hostien aus der Kirche verhökert werden. Die Dorfbewohner sind so bettelarm, dass einem beim Zuschauen kalt wird, wenn man sie mit ihren nackten Füßen in Lumpen durch den Winterwald gehen sieht. Es ist auch so kalt, weil es wenig Liebe gibt im Dorf. Nur Liinas Liebe für den Bauernjungen Hans, der seinerseits der Gutsherrentochter nachstellt, zieht sich durch den Film wie ein einsames, flackerndes Talglicht.
Ein einziges Mal stehen die Dorfbewohner zusammen, als die Pest in Gestalt einer schönen Frau ins Dorf kommt. Sie retten sich, indem sie die Fremde täuschen: Sie ziehen sich Hosen und Röcke über Arme und Kopf, so dass die gefährliche Schöne in der Scheune eine Herde kopfloser, nebeneinander liegender Monster vorfindet und sich wieder trollt.
Regisseur Rainer Sarnet zieht den Zuschauer mit den betörenden Schwarz-Weiß-Bildern von Kameramann Mart Taniel und seinen düster poetischen Arrangements direkt hinein in die Welt eines mittelalterlichen estnischen Dorfes, in der Mythen und Alltag, Liebeszauber und Kirchengang eng verwoben sind, und erschafft eine Magie, die ihre eigene Logik entwickelt. Die Romanverfilmung wurde bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck als Sondervorführung in der Katharinenkirche gezeigt und entfaltete zwischen den weißen, gotischen Rundbögen ihre ganze atmosphärische Dichte. Danach standen wir verzaubert und verstört in der Nacht, ohne Worte für diese Reise in eine ferne, archaische Welt, kalt wie der November und kristallschön wie eine Eisblume.
___________________________________________________________
November, Estland / Niederlande / Polen 2017 | Regie: Rainer Sarnet | Drehbuch: Rainer Sarnet, nach einem Roman von Andrus Kivirähk | Kamera: Mart Taniel | Mit: Rea Lest, Jörgen Liik, u.a. | Laufzeit: 115 Min.