Russland 2012. Das Mittelschichtpaar Zhenya und Boris lässt sich scheiden. Sie haben jeweils neu begonnen. Ihren 12jährigen Sohn Alyosha wollen beide nicht. Als der entsetzte Junge hört, dass er ins Heim abgeschoben werden soll, läuft er fort. Erst zwei Tage später bemerken die Eltern sein Fehlen.
LOVELESS, im Original NELYUBOV, was man als „Nichtliebe“ transkribieren kann – der Titel ist Programm: Nach seinem ebenbürtig beeindruckenden LEVIATHAN verleiht der russische Independent-Auteur Andrey Zvyagintsev dem Drama über zwischenmenschliche Kälte in einer Familie eine stille, emotional heftige Wucht, für die seine Parabel auf das eisige Russland Putins abermals für den Auslandsoscar nominiert ist.
Gewisse Ähnlichkeiten zu Asghar Farhadis mit dem Oscar prämierten Scheidungsdrama NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG liegen auf der Hand, Zvyagintsevs nüchterner Realismus, der eine Kälte aufzeigt, die mehr verstört als mancher Horrorschocker, steht aber für sich. Zwei Rabeneltern, längst dabei, sich mit anderen Partnern ein neues Leben aufzubauen, Gewinner eines neuen materiellen Wohlstands, missachten drastisch ihr Kind.
„Ohne Liebe kann man nicht leben“ sagen sie und sind dennoch einem oberflächlichen Materialismus verhaftet, elend egoistisch von einer Sehnsucht nach Geborgenheit geleitet, die sie selbst nicht bereit sind zu geben. Sie haben sich gegenseitig benutzt, ihren ungeliebten Sohn ignorieren sie, schlagen oder schimpfen ihn, ein Kollateralschaden ihres Versagens. Als eine Suchaktion anläuft, ist es für Krokodilstränen zu spät.
LOVELESS demonstriert in glanzlosen, matten, dunklen Bildern von großer Sorgfalt durch die Abwesenheit des Jungen den gravierenden Mangel an Menschlichkeit, was wahrhaft an die Nieren geht. Zvyagintsev gelingt es durch biografische Details diese Eltern zu erklären und nicht auf das zu reduzieren, was sie eigentlich sind: wahre Monster. Alle wollen glücklich sein, doch alle nur für sich, niemand kann das wirklich miteinander.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich das als erschreckendes Gleichnis auf Putins Russland vorzustellen, auf die Heuchelei der „orthodoxen Scharia“, auf vorgeblich christliche, politische Lügen, die Unbeteiligte (wie in der Ukraine) opfert. Scheibchenweise entlarvt Zvyagintsev in diesem Sittenbild das bröckelnde Sozialgefüge einer mitleidlosen, antisozialen Gesellschaft, in der jeder für sich allein stirbt, nicht zuletzt die Großmutter.
Die wird treffend als „Stalin im Rock“ tituliert, was LOVELESS heranzieht, um die zerrütteten Verhältnisse einer Beziehung schonungslos offen zu legen. Wenn das Leben danach einfach weitergeht, hat das Handeln zweier Hassfiguren einen mit der Wucht eines Zuges überrollt, herausgearbeitet in prägnanter Deutlichkeit, was eine herzzerreißende, unerträgliche, immense Wirkung ergibt. Das hat jeden Preis (auch den Oscar) verdient.
Erschienen auf kommsieh.de.
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Nelyubov, RUS/F/D/B 2017 Regie: Andrey Zvyagintsev (Andrej Swjaginzew) | Drehbuch: Oleg Negin, Andrey Zvyagintsev | Musik: Evgueni Galperine, Sacha Galperine |Kamera: Mikhail Krichman |Mit: Maryana Spivak, Aleksey Rozin, Matvey Novikov u.a. | Laufzeit: 127 Min