Lucio Fulcis NON SI SEVIZIA UN PAPERINO (QUÄLE NIE EIN KIND ZUM SCHERZ / ITA 1972) lässt sich unter der Rubrik des „Giallo“, jener besonderen italienischen Spielart des ebenso zeige- wie mordfreudigen Kriminalfilms, einordnen. Charakteristisch hierfür sind zahlreiche Finten, undurchsichtige Figurenmotivationen und ein spezifisches Quäntchen Unbehagen, das die handelnden Personen wie auch das Publikum mit nervösem Schauer erfüllt. NON SI SEVIZIA UN PAPERINO ist all das und im Grunde noch so viel mehr.
Beeindruckend ist neben der visuellen auch, und das ist besonders hervorzuheben, die tonale Ebene. Der Film ist audiovisuell im reinsten Sinn, die Tongestaltung ein elementarer Teil der Filmfabel. Herauszustellen sind unbedingt auch die Darsteller, zu nennen sind hier beispielweise Florinda Bolkan, Tomas Milian, Barbara Bouchet, Marc Porel oder Irene Papas. Niemand sticht aus dem Ensemble heraus, alle spielen ausgezeichnet und fügen sich dem Großen und Ganzen unter. Dies führt wiederum zur Regieleistung von Lucio Fulci, der bereits mit UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (ITA 1971) einen kunstvoll inszenierten Giallo auf die Leinwände bannte. Florinda Bolkan ist die objektive darstellerische Klammer zwischen den beiden Filmen, ihre Rollen sind zwei Seiten einer Medaille. Die brasilianische Schauspielerin durchläuft in UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA eine psychische Entwicklung, als deren Endkonsequenz die wahnhafte „Hexe“ in NON SI SEVIZIA UN PAPERINO steht.
Fulci gelangen mit UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA und NON SI SEVIZIA UN PAPERINO zwei Filme von abgründiger Schönheit und mephistophelischer Eleganz, wie es sie in der Kinogeschichte nur sehr selten gibt. Oftmals belächelt und als „Kommerz“ abgetan, offenbaren seine Arbeiten nicht nur die Qualitäten eines vielfach talentierten Universalfilmhandwerkers und -regisseurs. Vielmehr sind sie der legitime Beweis, dass Fulci allen Unkenrufen zum Trotz als ernstzunehmender Filmemacher, als „Auteur“ gelten muss. In seinen besten Arbeiten demontierte er das an der Oberfläche noch intakte Familien- und Gesellschaftsbild der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Während er sich später, sicherlich auch aus kommerziellen Erwägungen, in den eskapistischen Raum der Untoten- und Gruselfilme flüchtete, und auch hier einige bemerkenswerte Arbeiten vorlegte, ist Fulci in seinen Gialli noch dicht am Geschehen und nahe am Puls der Zeit.
Als objektives Merkmal seiner Filme herauszustellen ist, gerade in den späteren Jahren, der oftmals krasse Ausbruch filmischer Gewalt, die derart überzeichnet ist, dass sie als comicartig gelten kann. Die Faszination eines so kultivierten wie belesenen Menschen für den Tod mag zunächst erstaunen, ein kurzer Blick in die klassische Schauerliteratur aber relativiert jegliche Vorbehalte. In seiner eigenwilligen Faszination für das Morbide, oftmals als Todessehnsucht verklärt, hat Fulci mit Edgar Alan Poe wie auch durch ihn inspirierte Literaten wie Arthur Conan Doyle oder H. P. Lovecraft einiges gemeinsam. Gemein haben Fulci und Poe auch eine gewisse Komik, die munter zwischen Sarkasmus, schwermütiger Melancholie und Ironie pendelt. In Fulcis Werken gesellt sich noch eine Prise Lakonie hinzu.
Fulcis große Horrorfilme sind voller zerfließender Leiber und prätentiös ausgeweideter Körper, die zum Takt einer oftmals ebenso überwältigenden wie rhythmisch-beatenden Musik ihr irdisches Leben aushauchen. Wohl niemand der L’ALDILÀ (ÜBER DEM JENSEITS / ITA 1981) gesehen hat, wird jene Szene vergessen, in der Maria Pia Marsala mit Schrecken erleben muss, wie sich ihr Vater im wahrsten Sinne des Wortes auflöst. IN QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO (DAS HAUS AN DER FRIEDHOFSMAUER / ITA 1981) wiederum ist besonders eine kunstvoll montierte Sequenz memorabel, in der ein die Pforte zum Wahnsinn längst überschritten habender Wissenschaftler davon berichtet, wie er im Haus des ominösen Dr. Freudstein erst den Verstand und dann das Vertrauen seiner Frau Sheila verloren hat.
Was schwerer wiegt? Wer sich mit Fulcis Oeuvre auskennt, der wird diese Frage sicherlich beantworten können. Für den studierten Mediziner hatte der Tod seinen Schrecken verloren, er war lediglich Anlass, um sich an dessen morbider Schönheit zu erfreuen. Nein, es ist die Angst vor dem Verlust der Vertrautheit; dem Gefühl zerstörter Geborgenheit durch und mit der Anderen. Stärker als der Tod und der Schmerz wiegt der gefühlte Verlust der Liebe, der als Affront gegen das eigene Selbst aufgefasst wird. Liebe ist die Einsicht in die eigene Verletzlichkeit. Sie ist die Bereitschaft, dem anderen zu vertrauen und nicht zu fordern. Wie damit umzugehen ist, mag jeder für sich selbst entscheiden. Fulci entschied sich für die Kompensation jenes seelischen Ungleichgewichtes durch die künstlerische Ausdrucksform Film, insbesondere die Verarbeitung von als Gewaltausübung erfahrener (gebrochener) Liebe durch die Darstellung fiktiver Gewalt in all ihren Spielarten. Das macht seine Filme ungeachtet aller inszenatorischen Brillanz allerdings unendlich traurig.
Ein oft geäußerter Vorwurf gegenüber dem Regisseur ist, dass er ein frauenfeindliches Weltbild vertreten würde. Dem ist jedoch vehement zu widersprechen. Was für ein armseliger (Künstler-)Mann müsste das sein, der das andere Geschlecht herabwürdigend, zum bloßen Lust- und Gewaltobjekt degradierend zur Schau stellt? Es mag diese Regisseure geben, Fulci zählt jedoch nicht dazu. Zugespitzt formuliert sterben bei ihm sowohl Männer als auch Frauen in verlässlicher Häufigkeit. So ist das Leben und so verlangt es der Genrefilm. Auffällig ist allerdings, dass es in der Inszenierung der Todesarten geschlechterspezifische Unterschiede gibt. Der Mann wird in vorwiegend lapidarer Weise „entsorgt“. Wann immer der Tod eine Frau ereilt, inszeniert Fulci bedachter; als ob ihn das Ableben seiner Leinwandheldinnen selber berührt. Der Tod einer Frau entwickelt sich bei Fulci zum popkulturellen Ereignis.
Besonders eindringlich nachzuempfinden ist das in NON SI SEVIZIA UN PAPERINO in jener Sequenz, in der Florinda Bolkan als Maciara durch eine Gruppe rachsüchtiger Männer gerichtet wird. Wie sich Bolkan windet, wie sie leidet und bittere Tränen weint, das hat geradezu biblische Ausmaße. Der Heiland taucht nicht grundlos in verschiedenen Szenen als Kreuzmotiv auf, am Ende ihres Lebensweges decken sich die Erfahrungen von Maciara und Gottes Sohn. Verlassen von allen ist der letzte Weg ein dorniger, an dessen Ende die spirituelle Erlösung steht. Maciara findet diese in einem Kinderlachen, dass ihr zugleich auf schmerzliche Weise noch einmal den Verlust des eigenen Sohnes vor Augen führt. Eine konterkarierende Brechung erfährt jene äußerst grenzüberschreitende Szene durch die Filmmusik von Riz Ortolani. Aus einem Radio läuft zunächst oberflächlich-zeitgenössische Popmusik, die durch enervierend-aufgesetzte Rundfunkmoderationen unterbrochen wird. Als die Dorfmänner ihre Ketten zum Einsatz bringen, geht die Rundfunk- schlagartig in die Scorebene über. Zu hören ist nun Ortolanis Popsong „Quei giorni insieme a te“, getragen von der herben Stimme von Ornella Vanoni. Jeder Hieb der Männer wird nur mehr verstärkt durch die emotionale Wucht und den romantischen Impetus von Ortolani-Varoni. Hier wiederum kommt die genannte Lakonie zum Tragen. Für viele Worte bleibt keine Zeit, die Dinge geschehen einfach. Und wenn ein Mensch zu den zärtlichen Tönen eines italienischen „Canzone“ sein Leben aushaucht, ist das Teil einer künstlerischen Realität, die Schönheit und Liebe destruktiviert. Maciaras Leinwandtod wurde von Fulci also nicht zum Selbstzweck inszeniert. Er treibt stattdessen die Tränen in die Augen, macht betroffen und hinterlässt den männlichen Zuschauer mit einem Gefühl der Scham. Der Tod hat in dieser Szene zudem aber auch etwas ungemein erhabenes, denn Maciara hat sich nicht brechen lassen.
Fulcis Frauen sind keine eindimensionalen Opfer, sondern Menschen, die unter den äußeren Umständen leiden oder an ihnen zugrunde gehen. NON SI SEVIZIA UN PAPERINO bietet neben der „Hexe“ Marciara noch zwei weitere interessante Frauenfiguren. Die von Barbara Bouchet gespielte Patrizia ist eine Janusgestalt, die bipolare Züge trägt. Ihre feminine Ausstrahlung wird von Fulci durch Züge einer spezifischen Grausamkeit regelrecht zertrümmert. Bis zum Schluss wird das Publikum im Unklaren darüber gelassen, wer diese Frau eigentlich ist und welche Motivation sie antreibt. Die von ihr erwähnten „Jugendsünden“ werden nicht näher erläutert, jedoch in einer äußerst kontroversen Szene zu Beginn angedeutet. Als dritte Frauenfigur sei auf Frau Avallone, die Mutter des Pfarrers, eingegangen. Mit bemerkenswerter Präsenz von Irene Papas gespielt, hat diese Figur eine starke Ausstrahlung zwischen familiärer Fürsorge und der Furcht vor der sogenannten „neurotischen Mutter“.
NON SI SEVIZIA UN PAPERINO ist im Genre des Giallo einer der wenigen Sonderfälle. Das Sujet wird von den urbanen Großstädten ins dörfliche und die Natur verlagert. Der Süden Italiens in all seiner Pracht und Hässlichkeit verleiht der Geschichte um geheimnisvolle Kindermorde eine archaische Würze. Hier ist der Mensch noch Mensch, der Trieb noch Trieb und der Hass noch Hass. Fulci, der neben Roberto Gianviti und Gianfranco Clerici mit für das Drehbuch verantwortlich zeichnete, berührt tiefgreifende Fragstellungen von Moral, Ethik und Ästhetik, vertieft diese jedoch nicht. Der metaphysische Unterbau, der in einigen Szenen unangenehm angedeutete pädophile Aspekt oder die zahlreichen Elemente des Heimatfilms gehen fließend ineinander über. Auch wird das Verhältnis des Pfarrers Alberto zu seiner Mutter und dem taubstummen Mädchen erst relativ spät eingeführt. Der Vorwurf, diese Fäden nicht zu weiter auszuformulieren oder hierzu Stellung zu beziehen, mag erhoben werden. Fulci interpretiert nicht, er zeigt und stellt dar. Die Kontextualisierung ist die notwendige Eigenleistung des Publikums.
Sergio D’Offizis Bildgestaltung ist exzellent, es regiert die entfesselte Kamera. Man meint geradezu, die ländliche Luft zu schmecken, selber in strömendem Regen durch Gebüsche zu kriechen oder bedächtige Schritte auf luftigen Anhöhen zu wählen. Die Filmmusik von Riz Ortolani ist ein tonales Gedicht, fügt dem Film Bedeutungserweiterungen und Interpretationsspielräume hinzu. Das Sound-Design – ein Albtraum vielfältiger Geräusche, Flächen und raumöffnender Klangbilder. Das bloße Geräusch einer sich ins Erdreich grabenden Schaufel öffnet wie bei Mozart die Pforten zu Hölle. Die Tonebene ist ein allumfassender Valeur ajoutée. NON SI SEVIZIA UN PAPERINO ist das dreckige, erdfarbene Gegenstück zum Hochglanz-Giallo UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA. Vergleichbar ist hier womöglich nur Luigi Bazzonis konventionellerer GIORNATA NERA PER L’ARIETE (DER SCHWARZE TAG DES WIDDERS / ITA 1971), in dem ein verkaterter Franco Nero sich im Sündenpfuhl der sogenannten höheren Gesellschaft seine Freiheit erkämpfen muss.
Das Kino – für Fulci ein wehmütiger Ort des Todes und der bitteren Tränen. Für das Publikum seiner Filme dagegen eine inspirierende Seherfahrung. Das ist Kino! Kino ist Liebe! Liebe ist Leben!
Erschienen ist der Film auf DVD und Blu-ray in deutscher Erstveröffentlichung vor einiger Zeit über ´84 entertaiment. Der Ton liegt in Englisch, Italienisch sowie einer eigens erstellten deutschen Synchronfassung vor. Mittlerweile wurden verschiedene Editionen aufgelegt.
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Non si sevizia un paperino, ITA 1972, R: Lucio Fulci, D: Florinda Bolkan, Barbara Bouchet, Tomas Milian, Irene Papas, Marc Porel, Georges Wilson, Vito Passeri, Rosalia Maggio u.a
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