Jack Hills Erstling SPIDER BABY litt darunter, dass er erst drei Jahre nach Fertigstellung in die Kinos kam. Drei Jahre. Was erst mal nach nichts klingt, ist in Zeiten kultureller Umbrüche plötzlich eine ganze Menge: In der Zeit zwischen 1964 und 1967 stehen nicht nur „Sgt-Pepper“, LSD und die Hippiegeneration, sondern auch das endgültige Ende des Schwarzweiß-Films und der Drive-In-Kinos und die Entstehung einer neuen Art von Horror- und Gruselfilm, mehr in Richtung Folk-Horror und Okkultismus. All das spricht extrem gegen SPIDER BABY.
Dabei ist SPIDER BABY ein Erstlingswerk, das nicht bloß in seiner Zeit ein exzellentes Stück Grusel auf Zelluloid bannte, sondern gleich mit mehreren Themen geradezu prophetisch in die Zukunft weist, und das mit großer stilistischer Souveränität. Wer von Hill formal so holprige Frühwerke wie bei Herschell Gordon Lewis erwarten würde, sieht sich getäuscht. Jack Hill – den wir heute für seine Meisterwerke COFFY, FOXY BROWN und SWITCHBLADE SISTERS verehren – war bereits 1964 kein Anfänger mehr: Bei Corman veredelte er Filme wie THE TERROR und THE WASP WOMAN mit nachgedrehten Füllszenen fürs Fernsehen.
SPIDER BABY ist erst mal schwer beeinflusst von Hitchcocks PSYCHO (1960): Er bringt den Schwarzweiß-Gothic aufs amerikanische Land. Doch hier mordet nicht ein kranker Einzeltäter, sondern eine elternlose Familie ist auf allen Ebenen des Menschlichen degeneriert, sozial und mental. Der glatzköpfige Ralph grunzt herum, mehr Tier als Mensch, die jüngere Tochter Virginia sieht sich zugleich als tödliche Spinne und als Verführerin mit einem Netz und sticht mit zwei Messern zu. Dazwischen verschlingt sie gern ein paar Insekten, während ihre ältere Schwester Elisabeth etwas weniger verspielt dem Morden zugewandt ist. Die geisteskranke Inzucht-Sippe hat noch ein paar lebende Tanten und Onkel im Keller versteckt, die ebenso dem Kannibalismus frönen – und einen Vater, der wie Norman Bates’ Mutter irgendwo im Haus als Über-Ich-Leiche seinen Tod fristet.
Gehütet wird die Familie mehr schlecht als recht vom alten Chauffeur Bruno (hervorragend gespielt vom 58jährigen Lon Chaney Jr.), der gern erziehen würde, aber eigentlich nur Spuren verwischen kann: „Du darfst nie wieder Spinne spielen.“
Dass die Geisteskrankheit auch gleich den Namen der Familie trägt, das „Merrye-Syndrom“ (und „merry“ ja auch „glücklich“ heißt), ist ein cleverer Schachzug von Hill, der besagt: Diese Hillbillies vom Land kannst du nicht kurieren, die sind glücklich in ihrer irren Welt. Die heutigen Breitbart-Leser und Fox-News-Konsumenten sind genauso Abkömmlinge der Merryes wie 10 Jahre nach SPIDER BABY die Protagonisten in TEXAS CHAINSAW MASSACRE oder in DERANGED. Es ist der bange Blick des Städters auf die Region zwischen der West- und der Eastcoast (Hill selbst wurde 1933 in Los Angeles geboren und war durch und durch Städter).
Und die Städter fahren natürlich nichts ahnend aufs Land. Die selbstbewusste Emily und ihr Bruder Peter wollen mit Hilfe eines Anwalts und dessen Assistentin das Haus übernehmen. Das gemeinsame Nachtessen mit all dem unzivilisierten Benehmen und den Ekligkeiten auf dem Teller (ja, auch Kannibalismus ist ein Thema, das der Film vorweg nimmt) bewegt sich auf dem Humorlevel der damals angesagten TV-Serien ADDAMS FAMILY oder MUNSTERS – nur bleibt uns hier das Lachen mit den Insekten und dem Menschenfleisch im Hals stecken. Weil sie auch gleich in „ihrem“ Haus übernachten wollen, kommt es nicht nur zum gemeinsamen Nachtessen, sondern zur nächtlichen Frontalkonfrontation, in deren Folge Emily in voller Unterwäschemontur durch das Haus gejagt wird, Vogelspinnen verschlungen werden und sich gruslige Szenen im Keller abspielen. Die einem tatsächlich ein paar Schauer den Rücken runter jagen.
So detailreich und versiert wie der Film (der übrigens auch eine sehr schöne, illustrierte Anfangsanimation hat und dazu einen amüsanten, coolen Titelsong, von Chaney gesungen) kommt auch die DVD-Edition von „Subkultur“ daher. Erwähnt sei schon nur das Booklet mit dem liebevollen Text von David Renske, das mit vielen Details zu Shooting und Schauspielern aufwartet – ebenso wie die anderen Zusatzmaterialien. Ein Making-of, Audiokommentar von Hill und Schauspieler Sid Haig (deutsch untertitelt!), ein Porträt des talentierten, zu früh gestorbenen Komponisten Ronald Stein, sowie alternative und erweiterte Szenen und Hills später Besuch des grusligen Merrye-Haus im Jahr 2006. Und nicht zuletzt die versierte Synchronisation unter der Leitung von Splatting Image’s Bodo Traber.
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Spider Baby or The maddest Story ever told, USA 1967 | Regie: Jack Hill | Drehbuch: Jack Hill | Kamera: Alfred Taylor / Musik: Ronald Stein | Darsteller: Lon Chaney Jr., Carol Ohmart, Beverly Washburn, Jill Banner, Sid Haig, Quinn K. Redeker, Karl Schanzer | 84 min.
Anbieter: Subkultur Entertainment