Paris im Jahre 1877. Im Opernhaus geht es nicht ganz mit rechten Dingen zu. Man sagt, in den Katakomben, tief unter den altehrwürdigen Gemäuern, würde ein böses Phantom lauern. Ob nun Aberglaube oder Schreckensmär, als die aufstrebende Sängerin Christine (Asia Argento) – eigentlich mit Baron Raoul De Chagny (Andrea Di Stefano) verbandelt – in Loge fünf eine unheimliche Gestalt erblickt und ihr wie verzaubert verfällt, ist klar, dass es ‚Das Phantom der Oper‘ (Julian Sands) tatschlich gibt – und dass es vor grausamsten Morden nicht zurückschreckt, um seiner geschundenen Seele Ruhe zu verschaffen. Eine bittere Geschichte voller Schmerz und Sehnsucht, Tod und Liebe, braut sich über der Bühne des Welttheaters zusammen.
Knappe zehn Jahre nach TERROR IN DER OPER (1988) wusste Dario Argento Fans wie Kritiker erneut zu überraschen. Nachdem er mit dem Vorgänger THE Stendhal-Syndrom (1996) erfolgreich reüssiert hatte, schien die Zeit reif für eins seiner Herzensprojekte: eine Verfilmung von Gaston Leroux‘ „Le Fantôme de l’Opéra“. Argentos lang gehegter Wunschtraum durfte jedoch keinesfalls als werkgetreue Adaption verstanden werden, das Drehbuch – das er gemeinsam mit dem Polański-Autor Gérard Brach verfasste – nahm den Stoff eher als Grundlage einer völligen Neuinterpretation; schon in der Grundanlage hatte der Film also bei allen Webber-gestählten Fans eine schwere Bürde zu tragen. Doch die märchenhaft reduzierte Gothic-Inszenierung ging ganz eigene Wege, um sich dem Sujet zu nähern und gab Argento Gelegenheit, sein ganzes Können auszuspielen.
Gedreht in der Budapester Oper entwickelte sich die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – hermetische Abgeschlossenheit des Raumes zu einem großen Plus des Streifens. Das Irren durch die Gänge, die schnörkelhaften Tableaus und die mit Anleihen an die große Zeit der Hammer Films gemahnende Inszenierung von Räumen, offenbarten erneut Argentos große Meisterschaft. Außerdem offerierte das Drehbuch vielerlei Anspielungen auf die verschiedensten Kunstformen und sollte so auch in Arthouse-Gefilde der Szene vordringen; dass die Gorehounds dabei etwas auf der Strecke blieben, nahm Argento in Kauf. Und dass die Führung der Schauspieler zugunsten des Stils schlicht rudimentär blieb und die Akteure – dankenswerterweise besonders in den Hauptrollen durch Asia Argento und Julian Sands beeindruckend kompensiert – somit ein bisschen sich selbst überlassen blieben, sollte ihn ebenfalls nicht stören.
Vielmehr ging es Argento um die Inszenierung einer hintergründigen Geschichte um Sehnsucht, Tod, Liebe, Kunst, Leben und Sterben – nicht wenige große Themen, die der italienische Maestro des Grauens hier verarbeitete. Seine Tochter Asia, nicht nur eine Augenweide, sondern auch als Schauspielerin ein Naturtalent, ließ er wie in Trance durch die abstrakte Inszenierung wandeln. Die partiell gesetzten, jedoch derben Schockeffekte und Todesszenen, die im bekannten, plakativen und trotzdem kunstvollen Argento-Stil gefertigt wurden, durchbrachen das ansonsten fast schon klassisch gearbeitete Inszenieren und setzten so zusätzlichen Thrill. Dass der Film zu einem Zeitpunkt erschien, wo ein Großteil der Zuschauer den italienischen Humor, der sich partiell in der sonst düsteren Grundstimmung wiederfand, nicht zu goutieren wusste, mag als ungerecht empfunden werden – wie es im Leben manchmal so ist.
Hinter den Kulissen griff die Produktion auf fabelhafte Mitstreiter zurück. Kameramann Ronnie Taylor, Oscar-Preisträger und später noch für SLEEPLESS (2001) zuständig, bewies erneut seine Klasse und ließ die immer etwas ‚over the top‘ arrangierten „set pieces“ in Pracht und Herrlichkeit auf der Leinwand erscheinen. Ennio Morricone, der sich schon mit den Scores zu Argentos Tier-Trilogie (1969-1972) eines seiner vielen Denkmäler gesetzt hatte, ließ sich ebenfalls nicht lange bitten und schneiderte dem PHANTOM DER OPER eines jener Themen auf den Leib, wie sie schlicht nur Morricone hinbekam – voller Schwerblütigkeit und trotzdem leicht, melancholisch und dennoch liebevoll. Die mitunter saftigen Effekte, die sich vor keiner Hollywood-Produktion verstecken brauchten, lieferte mit Sergio Stivaletti einer der talentiertesten Techniker seiner Zunft.
Als letzter Film im Schaffen des Kultregisseurs feierte DAS PHANTOM DER OPER nun seine HD-Weltpremiere, hierzulande in der unrated-Version, ungekürzt und restauriert. Mit atemberaubender Qualität können nun die beeindruckenden Kamerafahrten, die schwelgerischen Dekors und opulenten Kostümierungen bestaunt werden. Der deutsche Dub und der italienische ‘Originalton’ sind sowohl im Stereoverfahren als auch mehrkanaligem Digitalsound zu genießen. Im Mediabook erschienen zeigt sich auch das Bonusmaterial in guter Verfassung. Ein Audiokommentar von Dr. Marcus Stiglegger und Dr. Kai Naumann offenbart vielen Hintergrundinformationen und Ausdeutungen der Inszenierung, schlägt Brücken und zieht Vergleiche mit anderen Filmen Argentos und splittet die einzelnen Facetten der Handlung sorgsam auf. Neben einem zeitgenössischen Making-Of und einem kurzen Interview mit Julian Sands, sind ein deutscher, italienischer und englischer Trailer sowie verschiedenes Werbematerial, Spots und Kamera-Schnittreste enthalten. Ein Booklet mit Essay von Dr. Kai Naumann und einem von Dr. Gerd Naumann geführten Interview mit Synchronsprecher Norbert Gastell beschließen die Boni.
Betrachtet man den Film aus heutiger Sicht, mit Abstand und Einordnung dessen, was danach kam, merkt man vielleicht viel eher, was für ein Meisterwerk der Regisseur hiermit seiner Filmographie hinzugefügt hatte. DAS PHANTOM DER OPER ist, bei den kleinen Schwächen, die er ohne Zweifel hat, mehr als die Summe seiner Teile. Es ist ein bildgewaltiges Opus voller Stil, Charme und Schwermut, Drama, Gore und viel Enthusiasmus – und das alles kredenzt von einem Regisseur, den man mit Fug und Recht zu den großen Filmkünstlern und visuellen Genies des neueren Kinos zählen darf.
Il Fantasma dell’Opera
Italien/Ungarn 1998
Regie: Dario Argento
Darsteller: Asia Argento, Julian Sands, Andrea Di Stefano, Nadia Rinaldi, Coralina Cataldi-Tassoni, István Bubik u.a.