Zunächst denkt man an einen Herzschlag, doch dann stellt sich das Wummern als rhythmischer Schlag der Basedrum heraus. Mit typisch schwerer Melodik erhebt sich die von E-Gitarre und Klavier vorgetragene Phrase, die schließlich in einem etwas hoffnungsvolleren, doch stets dramatischen Streicherpart aufgelöst wird. Riz Ortolani legt in seinen Klängen von vornherein fest, dass es dem Zuschauer bei diesem Film sprichwörtlich an die Nieren gehen wird – und mehr als das.
Professor Daniele Valotti (Gabriele Ferzetti) ist einer der führenden Ärzte Italiens und eine Kapazität auf dem Gebiet der Chirurgie. In seiner privaten Nobelklinik werden nur betuchte Patienten behandelt. Er führt eine genaue Kartei über jeden Patienten, in der die Vermögensverhältnisse und auch die privaten Gegebenheiten festgehalten sind. Dank dieser Einnahmen kann er einem Armenhospital als Wohltäter des „kleinen Mannes“ auftreten, der ärmere Patienten kostenlos behandelt – oder doch eher umsonst? Aber das noble Bild trügt: Schlampereien werden vertuscht, Schwerkranke zu früh entlassen, hoffnungslose Fälle mit Tabletten vollgepumpt und ärztliche Kunstfehler fadenscheinig begründet. Valettis Credo gegenüber seinen Kollegen: „Hier in der Klinik stirbt mir keiner!“ Nur sein alkoholkranker Kollege Giordani (Enrico Maria Salerno) und die Oberschwester Maria (Senta Berger) blicken hinter die Kulissen des sauberen Arztkittels, entdecken ein Geflecht aus Gier, Geschäft und blanker Machtgeilheit. Als Valotti einen anonymen Brief erhält, in dem ihm ein ärztlicher Fehler, der den Tod eines Patienten zur Folge hatte, nachgewiesen wird, beschließt er, sich vor den Augen der Welt mit einem Kartenhaus aus Lügen zu rechtfertigen.
Wenn Vittorio Salernos BETRACHTEN WIR DIE ANGELEGENHEIT ALS ABGESCHLOSSEN (1973) schlecht geeignet ist für Menschen, die der Justiz pauschal misstrauisch gegenüberstehen, so sollten sich Zuschauer, die an einer gewissen Eigenart von Arzt- oder Krankenhausphobie leiden, DIE WEISSE MAFIA nicht oder nur in Begleitung ansehen. Als vertrauensbildende Maßnahme jedenfalls ist der Film nicht geeignet und so ist er auch von Regisseur Luigi Zampa nicht intendiert. Da hilft auch die beschließende „Beruhigung“, dass statistisch auf einen Valotti hundert Albert Schweitzer kommen, nur bedingt – denn ein Valotti ist schon ein Valotti zuviel. “Kennst Du den Unterschied zwischen einem Architekten, einem Koch und einem Arzt? Der Architekt versteckt seine Fehler unter dem Putz, der Koch unter der Mayonnaise und der Arzt unter der Erde”. Einen solchen Witz kann Professor Valotti seinem Sohn vor dem Einschlafen freimütig erzählen, weiß er doch bestens wovon er redet.
Ähnlich eines Carlo Lizzani in San Babila, 20 Uhr: EIN SINNLOSES VERBRECHEN (1976) übernimmt der im Neorealismus geschulte Zampa mit seinem Kinofilm – in Zeiten der gleichgeschalteten Medien jener Jahre – die Position des investigativen Journalisten und ergreift eindeutig Partei für die reformatorischen Kräfte innerhalb der Politik. Er geht dahin, wo es wehtut; direkt in die Krankenzimmer, in die Operationssäle und sämtlich an Originalschauplätze. Dem Regisseur geht es nicht um die Unterhaltung per se: er bedient sich der Machart eines Genrefilms und führt sie zugunsten einer inhaltlichen Befassung ad absurdum. Keine überflüssige Schauspielkunst, keine unnötige Künstlichkeit und schon gar keine optischen Schauwerte. Hätte sich das Sujet für blutige Operationsszenen und plakative Innereischmadderein angeboten, so verzichtet Zampa völlig auf derlei Zutaten; die Geschichte ist so stark und fesselnd, dass es dieser Gimmicks nicht bedarf. Die Kamera dringt nur partiell ins Subjektive, bleibt jedoch oft bewusst statisch; es ist hochinteressant dargestellte, filmisch aufbereitete Wirklichkeit. Zampa zeigt die hässliche Fratze des italienischen Gesundheitssystems jener Jahre, dokumentiert und wertet eindeutig, stellt Fragen – und überlässt es doch dem Zuschauer, die Antworten zu finden.
Gabriele Ferzetti als erschreckend durchtriebener „Halbgott in Weiß“ und Enrico Maria Salerno als desillusionierter Praktiker mit moralischem Appendix liefern sich ein Duell auf Augenhöhe und zeigen unaufgeregtes Schauspiel auf Weltniveau; Senta Berger kann man ohnehin gar nicht genug danken für Ihre Interpretation der überzeugten Ordensschwester. Sie alle stellen sich in den Dienst der Sache, tragen ihren Anteil zu einem filmischen Appell bei, über dem ein großes „Wehrt euch! Empört euch!“ stehen könnte. Denn dem fehlgeleiteten Machthunger der “weißen Barone“, vor denen vom Kaiser bis zum Bettelmann alle auf die Knie fallen, in Verquickung mit Geschäften der Pharmaindustrie und dem Segen der staatlichen Überwachungsorgane den Kampf anzusagen, dafür stehen die Filmemacher ein. Die filmische Elite – zu der neben Zampa, Ferzetti und Salerno auch Luciano Salce und Claudio Gora gezählt werden dürfen – positioniert sich in der thematischen Auseinandersetzung der damaligen Gesellschaft klar links – den nationalkonservativ-rechtslastigen Bewahrern des alten Systems dürfte DIE WEISSE MAFIA kaum zugesagt und einige Protestnoten verursacht haben. Hatte er den Grundkonflikt des Filmes – „Weil Du arm bist, musst Du früher sterben“ – mit IL MEDICO DELLA MUTUA (1968) noch satirisch bearbeitet, merkt man Zampa den unverstellten Ekel über die Situation nun deutlich an. Dass es erst 1978 gelang, das italienische Gesundheitssystem auf neue Füße zu stellen und eine staatliche Grundversorgung aller Bürger ohne Ansehen von Einkommen und sozialem Status zu gewährleisten, spricht zur Sache.
Was bleibt ist ein unbequemer Film, der auf vielen Ebenen seinem „Patienten“ schwer zusetzt. DIE WEISSE MAFIA verlangt mit seiner bitteren Schärfe und seinem unverstellten Blick dem Zuschauer einiges ab. Doch man sollte sich vornehmen, den Horror der Realität auszuhalten. Nachwirken wird dieses filmische Protokoll zur Lage eines Systems noch lange. Insbesondere wenn man bedenkt, dass der Film über die Jahrzehnte nichts von seinen bitteren Wahrheiten eingebüßt hat. Mir scheint, in Zeiten von Krankenhausprivatisierungen, Gewinnmaximierungen und Arzneimittelskandalen haben wir Luigi Zampas Film nötiger denn je.
DIE WEISSE MAFIA ist im anamorphen Format 1,85:1 und leicht ausgeblichenen Farben, jedoch ansprechender Schärfe erschienen, wobei neben der deutschen DEFA-Synchronisation und dem italienischen Ton auch die englische Synchronfassung enthalten ist. Neben einer Bildergalerie und einer Trailershow enthält die weiße Amaray im O-Card-Schuber ohne FSK-Logo noch ein informatives zwölfseitiges Booklet von Udo Rotenberg. Der phänomenale Soundtrack von Riz Ortolani ist übrigens bei GDM auf CD erschienen und hiermit empfohlen.
Mit etwas Verzögerung erschien vor kurzem auch eine Blu-ray-HD-Auflage von filmArt, die eine deutliche Steigerung gegenüber der älteren DVD ist. Die Blu-ray-Abtastung ist von bestechender Schärfe und auch der Ton profitiert von der Neuauflage. Ob sich dieses „Upgrade“ lohnt, mag aber jeder für sich entscheiden, denn neue Extras gibt es hier nicht. Wer mit dem Gedanken spielt, sich den Film erstmalig zu kaufen, sollte aber auf jeden Fall zur Blu-ray-Auflage greifen.
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Bistura – La Mafia bianca, Italien 1973 | Regie: Luigi Zampa | Darsteller: Enrico Maria Salerno, Gabriele Ferzetti, Senta Berger, Claudio Gora, Luciano Salce u.a.
Anbieter: filmArt