„Ich hatte recht: Sie sind Hexen!“ Das sind Patricias erste Worte. Wir schreiben das Jahr 1977 – das Jahr, in dem ein gewisser Dario Argento eine Hexengeschichte verfilmte, die in Deutschland spielte, aber auch das Jahr, in dem Deutschland in Aufruhr war. Das Jahr des deutschen Herbsts. Die junge Tänzerin Patricia, die sich zum Psychiater Dr. Josef Klemperer (gespielt von Tilda Swinton) begibt, braucht eine Krisenintervention. Sie fühlt sich beobachtet und versucht, sich in der Praxis zu verstecken. Die Kamera gleitet über zwei herumliegende Bücher, die zwei dem Film zugrundeliegende Themen definieren: C.G. Jungs „Die Psychologie der Übertragung“ und ein Buch über die „Geheimnisse der Freimaurerei“. Derweil diagnostiziert Dr. Klemperer Wahnvorstellungen.
Es folgt der Vorspann mit dem ätherischen, geisterhaften Titelsong von Thom Yorke (Radiohead): „Suspirium“. Das Gegenteil zur Aggressivität von Goblins 77er-Titelmusik für Argentos Film. Damit ist definitiv klar, dass Luca Guadagninos Remake von Argentos Horrorklassiker SUSPIRIA die Geschichte völlig anders erzählen wird. Beginnend mit dem Handlungsort. Die Geschichte spukt nicht im abgeschiedenen Freiburg im Breisgau herum, sondern in Berlin. West und Ost. Susie Bannion (Dakota Johnson) aus Ohio verwirklicht nach dem Tod ihrer freikirchlerischen Mutter ihren größten Wunsch und kommt nach Berlin, um an der hervorragenden Helena-Markos-Tanzschule bei der berühmten Madame Blanc (Tilda Swinton) Tanz zu lernen. Obwohl sich Blanc noch nicht für sie interessieren dürfte, wird bald klar, dass von Susies Bewegungen eine unglaubliche Faszination ausgeht. Und Sayombhu Mukdeeproms Kameraarbeit schafft atemberaubende filmische Choreografien von Tanzszenen, die in gespenstischen Momenten kulminieren. Besonders beängstigend wird es, wenn Susie erstmals die Hauptrolle zum Stück „Volk“ aus der Zeit des Nationalsozialismus tanzt und die vorher abgesetzte Olga durch eine magische Übertragung dieselbe Tanzszene in einem Spiegelsaal nachspielt. Blutig nachspielt. Als Konsequenz daraus ersetzt die Amerikanerin die Russin („Olga hat das Herz von ‚Volk’ nie verstanden.“).
Susie ist begeistert, in Westberlin zu sein. „Dazu gehöre ich jetzt auch. Ich lebe in Berlin!“ Westberlin als klaustrophobische Metropole, von der aus die Welt verändert werden kann. Der Ort, in dem aus allen Fenstern propalästinensische Transparente hängen, in denen man nicht Bands, sondern großen Theoretikern lauscht. „Ich fahre nachher noch mit Clara zur FU.“ (Freie Universität Berlin) – „Ah, wer spricht dort?“ – „Lacan.“ (Jacques Lacan, poststrukturalistischer Psychiater und Psychoanalytiker). Womit auch gleich der psychologische Diskurs des Films vertieft wird. Der Ort, an dem die Rote Armee Fraktion einen gewissen Rückhalt hat, selbst als sie mit der Schleyer-Entführung den Deutschen Staat heraus fordert. Mit den Notstandsgesetzen 1977 beschwört der westdeutsche Staat eine Art Endgame herauf – und zeigt damit auch, dass er eng mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verknüpft ist: „Die RAF haben einen Geschäftsmann entführt. Während des Krieges war er ein Nazi, ein Offizier. Jetzt ist er der Kopf des deutschen Arbeitgeberverbands.“ In SUSPIRIA sprechen gewisse Personen politisch Klartext.
Doch Susie gerät in den Strudel der Geschehnisse an der Tanzschule. Noch bevor sie kommt, ist Patricia auf unaufgeklärte Weise verschwunden. Olga ist auf einmal weg. Die Führung der Markos-Schule steckt dahinter.
Klemperer recherchiert und versucht die Tänzerin Sara mit Patricias Tagebüchern vertraut zu machen, um so ins Mütterhaus vorzudringen: „Tanzunterricht und politische Aktion waren für Patricia gleichermaßen wichtig. (…) Wahnvorstellungen sind Lügen, die die Wahrheit sagen.“ Patricia begeht Selbstmord, als parallel dazu die „Landshut“ in Mogadischu gestürmt wird und die Gefangenen von Stammheim sich umbringen. War es Selbstmord oder Mord? Der Fernsehkommentar weist auch auf die zweite Möglichkeit hin, dass Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe vielleicht ermordet wurden. Wie die Übertragung von der Landshut auf Stammheim ist vielleicht auch Patricia durch eine Übertragung ermordet worden. Die Hexen-„Mütter“ jedenfalls sagen: „Wir wollten ihr unsere Macht geben, aber sie wollte nur Kaufhäuser in die Luft jagen.“
Wer bisher das Gefühl hatte, einen ganz anderen Film gesehen zu haben als Argentos Original, liegt natürlich richtig. Bei Guadagninos SUSPIRIA handelt es sich um ein Palimpsest von Argentos Film. Als Palimpsest wurde in der Antike und im Mittelalter eine Manuskriptseite bezeichnet, die – meist etwas abgewaschen – mit einem neuen Text überschrieben wurde. Im Strukturalismus und Poststrukturalismus wird das Palimpsest zu einer wichtigen Denkfigur, nach dessen Prinzip Guadagninos Film funktioniert: Schreiben existiert nur im Beisein von anderem Geschriebenem. Sein SUSPIRIA realisiert das noch viel stärker als A BIGGER SPLASH. (Funfact: Thomas de Quincey hat 1845 ausgerechnet in einem Pamphlet mit dem Titel „Suspiria de Profundis“ auf den Palimpsestcharakter des menschlichen Gehirns hingewiesen.)
Guadagnino überschreibt den ersten Teil von Argentos Film mit einer Geschichte zum Deutschen Herbst und macht so Argentos Geschichte rationaler, allerdings auch weniger gespenstisch, weniger artifiziell, weniger brutal. Gleichzeitig eröffnet er damit viele Diskurse: Der Satanismus aus Argentos Film erhält bei Guadagnino eine politische Dimension; das Amerikanische (Susie Bannion), das schon bei Argento ein Thema ist (Naivität, aber auch Vernunft) wird uminterpretiert (Flucht vor evangelikaler Erziehung, Hexentum). Doch in beiden Filmen kämpft das systemerhaltende und okkulte Alte gegen das Neue/Aufgeklärte – ein Backlash des Hexenglaubens. Was bei Argento 1977 versteckt ein Thema ist, hat Guadagnino deutlicher hervorgehoben: Auf das herrschende Alte in Gestalt von Altnazi Schleyer und Althexe Markos („Markos will leben. Wir haben rechtzeitig das Mädchen gefunden.“) wird Druck gemacht. Nicht zuletzt stehen auch die vielen bekannten Schauspielerinnen für all diese Themen: Jessica Harper für Argentos Original, das immer noch präsent ist, während „Katharina Blum“-Darstellerin Angela Winkler, Paul-Verhoeven-Favoritin René Soutendijk und Fassbinder-Favoritin Ingrid Caven alle eine europäische Vergangenheit aus den siebziger Jahren heraufbeschwören, eine vitale, politische Vergangenheit. Demgegenüber steht Tilda Swinton, die gleich drei Rollen spielt: Madame Blanc, Herbert Klemperer, und Helena Markos. Zwei davon vertreten die Ratio und Menschlichkeit, Markos das Gegenteil. Wie der Kampf ausgeht, soll hier nicht erläutert werden…
Im zweiten Teil geht endlich auch Guadagninos Film in die Horror-Offensive und gleicht sich Argentos Film handlungsmäßig ein bisschen an. Wenngleich Argentos grelle Farben düsteren, ausgebleichten Brauntönen Platz gemacht haben. Das führt uns in den fünften Akt des Films, „In the Mutterhaus (All the floors are darkness)“, überschrieben. Die Premiere von „Volk“ steht an, die Tänzerinnen in Kleidern aus roten Stricken, inmitten des Braun, der Dunkelheit, der geheimnisvollen modernen Klassik aus den vierziger Jahren, die plötzlich einen Jazzbeat erhält. Sara, die vorher die blutüberströmten Patricia und Olga entdeckt hatte und nun mit einem gebrochenen Bein in die Performance kommt und zusammenbricht, sprengt die Vorstellung. Abbruch. Außerdem wird Klemperer von den Hexen ins Mutterhaus verschleppt – die Situation spitzt sich zu und geht über die üblichen fünf Akte hinaus.
SUSPIRIA hat einen langen sechsten Akt, im Hexenhaus, in dem sich atemberaubende Dinge abspielen (die hier nicht verraten werden sollen). Hier wird der Film spooky und blutig, sehr spooky und sehr blutig – aber ohne den analytischen Charakter des gesamten Films zu verlieren. Das ist ästhetischer Hochgenuss, wenn auch mit weniger Horrorangst und –schrecken. Die Handlung ist gegen Schluss nicht nur schwer zu fassen, sondern auch schwer nachzuvollziehen. Der Film hat Handlungsschritte, die zu schnell gehen. Statt – wie so viele Kritiken vorschlagen – den Film zu kürzen, hätte es vielleicht sogar Sinn gemacht, den Film etwas zu verlängern. Doch Luca Guadagninos SUSPIRIA bleibt ein interessantes und auch unterhaltsames Experiment, das zeigt, wie komplex Horrorfilme gesellschaftliche Themen und abstrakte Theorien miteinander verweben können.
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Suspiria | Italien/USA 2018 | Regie: Luca Guadagnino | Kamera: Sayombhu Mukdeeprom | Musik: Thom Yorke | Darsteller: Tilda Swinton, Dakota Johnson, Mia Goth, Angela Winkler, Chloë Grace Moretz, Ingrid Caven, Elena Fokina, Renée Soutendijk, Jessica Harper u.a. | 152 min.
Anbieter: Koch Media