Müdes Grinsen.

Die Aussicht auf einen neuen Film des Regisseurs Todd Phillips löst in mir üblicherweise einen Fluchtreflex aus, da Phillips bisher überwiegend durch Brachialkomödien wie die HANGOVER- Reihe in Erscheinung getreten ist, die es in der Regel nicht mal schaffen, mir ein müdes Grinsen aufs Gesicht zu zaubern. Ich weiß, Humor ist Geschmackssache, aber Phillips‘ Geschmack von Humor verfehlt meinen sehr zuverlässig. Angesichts der Tatsache, dass JOKER von einen Mann handelt, der auch nicht weiß, was das Publikum lustig findet, ist das schon wieder ziemlich ironisch.

Joker_Poster Als JOKER unter Phillips‘ Regie angekündigt wurde, war das Thema eigentlich schon für mich abgehakt, aber die interessante Besetzung, der erste Trailer und die Reaktionen und Preise in Venedig machten mich dann doch neugierig. Als kurz vor dem Kinostart in den sozialen Medien dann auch noch laut „Skandal“ gebrüllt und über die Moral des Films und dessen Triggerpotential für labile weiße Männer mit Feuerwaffen diskutiert wurde – meist von Menschen, die den Film noch gar nicht gesehen hatten – nun, da war klar, dass ich den Film wohl doch anschauen muss.

Und siehe da, es hat sich gelohnt. Phillips und sein Co-Autor Scott Silver (THE FIGHTER) zeigen hier die düstere Entwicklung eines gestörten jungen Mannes zu einem Comic-Superschurken, ohne dass der Film auch nur ansatzweise Anklänge an die heute üblichen Comic-Spektakel bietet. Angesiedelt in Gotham City 1981, erkennbar an Kinoaushängen der in dem Jahr gestarteten Filme BLOW OUT und ZORRO MIT DER HEISSEN KLINGE, spielt die Story in einer abgewirtschafteten, müll- und rattenverseuchten Stadt, die auch gesellschaftlich vor dem Kollaps steht.

Joker_4 Erst kürzlich aus der Psychiatrie entlassen und versorgt mit verschiedenen Medikamenten, lebt Arthur Fleck (Joaquin Phoenix – YOU WERE NEVER REALLY HERE) zusammen mit seiner pflegebedürftigen Mutter Penny (Frances Conroy – SIX FEET UNDER) in einem heruntergekommenen Wohnblock. Penny hat früher für den Industriellen Thomas Wayne (Brett Cullen – THE SHALLOWS) gearbeitet und schreibt ihm regelmäßig Briefe, in denen sie ihn um finanzielle Unterstützung bittet – allerdings bisher ohne Erfolg.

Fleck arbeitet als Mietclown für eine schäbige, kleine Agentur und verdient sich sein Geld mit diversen Kleinauftritten auf Gehwegen oder in Krankenhäusern, während er sich selbst aber als kommenden Stand-Up-Comedian sieht. Dummerweise ist er nicht sonderlich witzig, sondern sozial gehemmt und psychisch krank. Besonders auffällig ist dabei das Symptom, in Situationen, in denen er Angst oder Druck verspürt, ein unkontrollierbares krächzend-kreischendes Lachen von sich zu geben. Um seine Mitmenschen zu beruhigen, hat er kleine Karten parat, die seinen Zustand beschreiben und erklären.

Arthur Flecks Abstieg beginnt damit, dass ihm von einer Bande Jugendlicher das Werbeschild gestohlen wird, mit dem er auf der Straße Kunden zu einem Räumungsverkauf locken soll. Statt die Sache mit einem Schulterzucken abzutun, verfolgt Arthur die Jugendlichen bis in eine Seitenstraße, wo er von der Gruppe zusammengeschlagen wird. Sein Chef glaubt kein Wort seiner Geschichte und verlangt auch noch, dass Arthur das gestohlene und zertrümmerte Schild bezahlen soll. Es folgen weitere Rückschläge und Ungerechtigkeiten, die Flecks Selbstmitleid und Verzweiflung steigern und seine Gedanken immer wieder um seinen Suizid kreisen lassen. Ein weiterer Vorfall führt schließlich zu einer blutigen Schießerei in der U-Bahn, bei der drei Wall Street Yuppies auf der Strecke bleiben. Dieser dreifache Mord wird zur Mediensensation und Fleck fühlt sich endlich „gesehen“, obwohl seine Identität wegen seiner Clownsmaskierung der Öffentlichkeit vorerst unbekannt bleibt.

Joker_3 Die plötzliche Berühmtheit führt ihm trotzdem vor Augen, dass er die gewünschte Aufmerksamkeit offenbar nur dann erfährt, wenn er die gesellschaftlichen Regeln und Normen ignoriert und einfach seinen Impulsen gehorcht. Und so ist der Weg zur Geburt des „Jokers“ nicht mehr weit…

In einer wirklich bemerkenswerten, nach Preisen und Nominierungen aller Art schreienden Performance spielt Joaquin Phoenix den Joker als eine vollkommen andere Inkarnation als die zu Recht hochgelobte Version von Heath Ledger. Während Ledgers Joker ein bösartig kalkulierender, weit vorausplanender Architekt des Chaos war, ist Phoenix‘ Joker ein relativ planloser, eher durch die Verkettung tragischer Umstände die gewünschte Anarchie auslösender Irrer. Eine darstellerische Leistung, bei der man häufig wegschauen möchte, die aber so faszinierend ist, dass man den Blick nicht von der Leinwand abwenden kann.

Nicht zu übersehen ist die Verwandtschaft zu ähnlich gelagerten Figuren wie William Foster aus Joel Schumachers FALLING DOWN, Howard Beale aus Sidney Lumets NETWORK, Travis Bickle aus Scorseses TAXI DRIVER und besonders Rupert Pupkin aus KING OF COMEDY, was Robert De Niros Rolle als Latenight Showmaster Murray Franklin in diesem Film besonders interessant macht.

Die Geschichte ist eingebettet in angemessen unschöne Bilder, bei denen DP Lawrence Sher (HANGOVER) und Production Designer Mark Friedberg (NOAH) in Farbgebung und Filmstil Anleihen u.a. an David Finchers SIEBEN genommen haben dürften. Hier wie dort dominieren Braun- und Gelbtöne, sowie trotz Beleuchtung stets zu dunkle, abgewohnte Räume mit abblätternden, psychedelisch gemusterten Tapeten. Das ominöse Sounddesign erinnert ebenfalls an Fincher, unterstützt von einem grandios pulsierenden, düsteren Score von Hildur Guðnadóttir (SICARIO 2).

Joker_1 Wer einen sauberen Superheldenfilm nach dem Marvel-Strickmuster oder den seit WONDER WOMAN erheblich bunteren DC-Filmen erwartet, ist hier schon allein deshalb an der falschen Adresse, weil es in diesem Film keinen Helden gibt. Vielmehr ist JOKER ein je nach Sichtweise nihilistischer, provokanter oder zynischer Film, ein Abstiegsdrama, das eine hoffnungslose Geschichte in bewusst hässlichen Bildern erzählt, dabei aber so interessant gemacht und so grandios gespielt ist, dass man der üblen Entwicklung zum Trotz eine gewisse Sympathie für die Hauptfigur nicht unterdrücken kann. Ein fiebriges Charakterstück, über das sicher noch lange diskutiert werden wird.

Ist der Film deshalb toxisch oder unverantwortlich, wie manche Kritiker meinen? Kann er mental instabileTypen, Incels oder sich aus sonstigen Gründen von der Gesellschaft abgehängt fühlende Menschen (meist jung, weiß und männlich) zu irgendwelchen Untaten verführen? Das kann niemand beantworten.

Persönlich halte ich diese Diskussion, die ja in schöner Regelmäßigkeit – siehe TAXI DRIVER, A CLOCKWORK ORANGE, NATURAL BORN KILLERS, FALLING DOWN, sowie zahllose Videospiele – immer wieder durch die Medien gezerrt wird, für vollkommenen Unsinn. Sicher mag es Menschen geben, denen bestimmte Filme aus der Seele sprechen, die sich in einer vergleichbaren Situation sehen, aber wäre provokantes Material derart gefährlich, würden wir alle vermutlich nur noch mit Schutzweste und Kampfmontur vor die Haustür treten.

Joker_6 Dabei ist gerade dieser Arthur Fleck sicherlich kaum als Identifikationsfigur geeignet, da er über keinerlei Eigenschaften verfügt, denen man, zumindest bei klarem Verstand, nacheifern könnte.
Und betrachtet man Film weiterhin als Kunstform, sollten wir alle froh sein, dass Kunst eben auch provokant sein soll und darf und zudem nicht jedermanns Geschmack treffen muss. Freuen wir uns also, dass neben allem zielgruppentauglichen Hochglanz auch mal ein riskantes Studioprodukt das Licht der Leinwände erblickt.

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Joker, USA/Australien 2019 | Regie: Todd Phillips | Drehbuch: Todd Phillips, Scott Silver nach Charakteren von Bob Kane, Bill Finger und Jerry Robinson | Kamera: Lawrence Sher | Schnitt: Jeff Groth Musik: Hildur Guðnadóttir | Darsteller: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Frances Conroy, Brett Cullen, Shea Whigham, Bill Camp, Douglas Hodge, Glenn Fleshler, Marc Maron, Sharon Washington, Hannah Gross, Brian Tyree Henry, April Grace | Laufzeit: 122 Min.