Die Schweiz mag filmisch nicht viele Überraschungen auf Lager haben, ist aber immer wieder für ein paar seltsame Filmperlen gut. Bei DER UNBEKANNTE MANN VON SHANDIGOR (L’INCONNU DE SHANDIGOR, 1967) handelt es sich um einen typischen Sixties-Spionagefilm. Aber eben, aus dem Land der Neutralität, das in seiner Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder zum Spielball von Spionageaktivitäten wurde. Am Neuchâtel International Fantasy Film Festival wurde in diesem Jahr eine neu restaurierte Filmkopie dieser „Spionageparodie meets Dürrenmatt“ in einer Open Air Vorstellung gezeigt.
Der besessene und halb irre Wissenschaftler Von Krantz hat den sogenannten Annulator erfunden, der Atomwaffen entschärfen kann. Das führt allerdings nicht zum Weltfrieden, sondern zur Jagd verschiedenster Organisationen auf Von Krantz. Friede ist nicht erwünscht, das System des Kalten Kriegs muss am Leben erhalten werden. Amerikaner, Russen, Asiaten und die „private“ Einsatztruppe der Glatzen mit einem stilvollen Chef (ein Chef, von Serge Gainsbourg höchstpersönlich in aller Coolness gespielt).
Natürlich gibt der Film in vielerlei Hinsicht die Paranoia der Zeit wieder, wie viele andere dystopische Spionagefilme. Spionage in L’INCONNU DE SHANDIGOR ist ein schmutziges Geschäft, eine Männerwelt, die in Absenz von Frauen erledigt wird. Es geht, wie im Anti-Bond-Genre üblich, nicht um primitive Fights und lärmiges Auftreten, sondern um Beobachtung, Verstehen, Austricksen. Dabei geht es dem Film nicht darum, politisch für den Westen, for Her Majesty’s Service oder einfach für Freiheit Stellung zu beziehen. Im Gegenteil: Die USA werden durch einen Altnazi repräsentiert. Howard Vernon spielt den slicken, gutaussehenden amerikanischen Spion, der bei Frauen gut ankommt, der aber aus den dunkelsten Tagen Deutschlands stammt. Die schöne amerikanische Oberfläche täuscht.
Die Sowjets, deren Spionagechef beinahe Shostakovich heisst, nämlich Shoskatovich, foltern mit Musik. Der Sixties-Stil Psych Beat wird als kapitalistische Foltermusik eingesetzt (notabene ein Jahr vor Durand-Durands folternder Lustorgel in BARBARELLA). Überhaupt sind „poetische“, an der Kunst orientierte Strategien von gutem Styling, über Wandzeichnungen bis hin zu eleganten Autos wichtiger als effizientes Handeln. Die Spionage-Teams lauern tagelang vor der Villa von Von Krantz, lauern auf den richtigen Moment.
An diesem Schwarzweiss-Film ist alles betont stilvoll und cool, jede Kameraeinstellung, jedes Objekt. Im Zentrum steht allerdings die Architektur. Alles Imposante und Moderne, was die Schweiz in den Sechzigern zu bieten hat, wurde abgefilmt. Vor allem die moderne Villa von Von Krantz mit den typischen Eternit-Sesseln von Willy Guhl vor dem Haus. Ein Ausflug des Filmteams nach Barcelona bringt uns auch viele Gaudi-Bauten näher – was einen ziemlichen Stilbruch darstellt zum eher funktionalen Bauen in der Schweiz. Allerdings werden die Rundungen Gaudis vor allem dann eingesetzt, als Von Krantz’ Tochter Sylvaine flüchtet. Sie träumt von ihrem Manuel, einem Spion mit Lockenkopf, der wahre Sunnyboy der Szene, in den sie sich verliebt hat und mit dem sie in die Traumwelt Shandigor flüchtet.
Gegen Ende des Films kommt dann noch ein Jaguar E öfter ins Bild. Der allerdings wird so behutsam gefahren, dass der aufmerksame Zuschauer nicht umhin kommt, ihn als wertvolle Leihgabe für den Film zu identifizieren: Bitte ohne Kratzer zurückgeben. So deliriert L’INCONNU DE SHANDIGOR zwischen einem leichtem Amateurismus, der von eleganter Ästhetik übermalt wird, und einer manchmal etwas dämlichen Parodiehaftigkeit, die aber wiederum dank godardesken Brüchen in Montage und Plot smart aufgeladen werden. Kurz: Der Film ist cool. Und Serge Gainsbourgs Requiem nach dem Tod eines seiner Spione ist grandios: Wenn Gainsbourg an der Orgel seine Komposition „Bye-bye Mister Spy“ in dunklen Gewölben zur Ehrung des Toten spielt, zeugt das von allerhöchster musikalischer und filmischer Kunst.
L’inconnu de Shandigor
Schweiz 1967
Regie: Jean-Louis Roy
Darsteller: Marie-France Boyer, Daniel Emilfork, Howard Vernon, Ben Carruthers, Serge Gainsbourg u.a.
Laufzeit: 95 Min.
Der Film lief am Neuchâtel International Fantasy Film Festival 2019.