Mit das größte Verdienst der deutschen Independent-Labels ist sicher ihre engagierte archäologische Arbeit, die Nachdrücklichkeit, mit der immer wieder neue Schätze aus Kellern und Katakomben geborgen werden – verschollene Kopien und Sequenzen, ganze Produktionen, die der Vergessenheit entrissen werden können. In den Archiven deutscher TV-Sender (und anderer geheimer Orte) sind vor allem die Forscher von Pidax aktiv, die in den vergangenen Jahren in geradezu unglaublicher Zahl klassische und obskure, bis in die 1950er Jahre zurück reichende Serien und TV-Spiele zu Tage gefördert haben, die teilweise längst als verloren galten. An Fernsehproduktionen nagt der Zahn der Zeit besonders hungrig, zumal vieles einstmals als Einwegprodukt betrachtet wurde, unwiederbringliche Aufzeichnungen einfach gelöscht wurden, weil man die Bänder wiederverwenden wollte. Die oft dürftigen technischen Mittel und der oft dürftige Zustand der Kopien haben die Werke meist schnell altern lassen; einer der Gründe, warum vieles – selbst als es noch spielbar gewesen wäre – nicht mehr aus den Grüften herausgeholt wurde.
Gerade Genreexperimente wieder oder neu zu entdecken, ist filmhistorisch von immensem Interesse – eine Zeitlang waren TV-Produzenten nicht nur in Deutschland in Sachen Innovation und Wagnis ihren Kollegen von der Kinoleinwand erheblich voraus. Dies in der Tat zu einer Zeit, die nicht nur lange her, sondern auch unendlich weit entfernt ist von heutigem Fernsehgeschehen.
Zwei sehr unterschiedliche deutsche TV-Produktionen aus dem Bereich der Horrorphantastik sind die jeweils mittellangen Filme DAS GESICHT AUF DER WAND (SFB 1983) und SCHATTEN AUS DER ZEIT (ZDF 1975), die gerade im Vergleich nicht nur die ganze Bandbreite abzustecken scheinen, die im Umgang mit solchen Sujets beim Öffentlich-Rechtlichen Deutschen Fernsehen zu finden war, sondern auch eine leider rückwärts gewandte historische Entwicklung aufzeigen…
In einer eigentlich typischen Hörspielsituation sitzen drei Clubgäste – die einst sehr bekannten Schauspieler Siegfried Wischnewski, Antje Weisgerber und Ivan Desny – bei Kerzenschein und Gewittersturm und diskutieren über Angstlust und das Übersinnliche anhand der legendären Erzählung Poes um den verblichenen Monsieur Valdemar, als sich ein weiterer Gast hinzusetzt, der den „Zweiflern aus Profession“ etwas Haarsträubendes zu berichten weiß, das er wahrlich selbst erlebt hat… In einem herunter gekommenen Zimmer in einem Hinterhof des alten West-Berlin hausend, entwickelt der mental zerrüttete Mann eine ausgewachsene Paranoia, als er nasse Flecken auf seiner untapezierten Wand entdeckt, die sich bewegen, offenbar lebendig geworden sind und alsbald das Abbild eines menschlichen Gesichts bilden. Der Wahnsinn scheint endgültig von ihm Besitz zu ergreifen, als er auf der Suche nach jener Person, zu der dieses Gesicht gehört, durch die Millionenstadt irrt, aber doch gibt es vielleicht für alles auch eine andere Erklärung – am Ende wird die phantastische Geschichte, die auch als Parabel im Stil moderner japanischer Kaidan über Großstadt-Einsamkeit funktioniert hätte (ich hatte auch schon mal so einen Verrückten neben mir wohnen), zur amüsanten Farce, um Leichtgläubige zu foppen. Geschrieben und inszeniert wurde diese eingedeutschte Adaption einer 1915 erschienenen, natürlich in London angesiedelten „unerklärlichen Erzählung“ des britischen Autors E.V. Lucas von dem SFB-Regisseur Dieter Finnern, der sich sonst mit Musikshows befasste. Und natürlich verliert sie jede Spannung ab dem Augenblick, wo alles erklärt und aufgelöst werden muss. Das passt ebenso sehr zur überheblichen Einstellung damaliger Redaktionen zur Phantastischen Literatur wie die hausbackene Machart des Films, der von Leuten realisiert worden zu sein scheint, die noch nie einen klassischen Horrorfilm aus der Nähe gesehen haben. Formal eher krude geraten, teils in schlecht passender naturalistischer, teils in überstilisierter Inszenierung bis hin zum Einsatz von Zeitlupe. Einige witzige Bildeinfälle, ein paar nostalgische Eindrücke vom damaligen West-Berlin, ein paar schauspielerische Glanzlichter (u.a. Rudolf Schündler) und eine an M.R. James gemahnende Bibliotheksszene stehen neben dem mediokren Agieren einiger Darsteller der üblichen Berliner Mischpoke. Und selbst die drei großen Stars der Geschichtenerzählerrunde waren schon besser. Als Rarität einer „Gruselstunde“ im deutschen Fernsehen dennoch in jedem Fall einen Blick wert, und sei es aus historischem Interesse.
Im Gegensatz dazu ist die fast zehn Jahre zuvor entstandene Lovecraft-Verfilmung SCHATTEN AUS DER ZEIT des be- (und ver-)kannten Regisseurs George Moorse heute ein Klassiker und eine kleine Legende unter den wenigen, die sie zumindest bei ihrer letzten Ausstrahlung in der „ZDF-Matinee“ am Sonntag Vormittag im April 1981 zufällig gesehen haben. Umgesetzt als „Fotoroman“, also als Abfolge von Standfotos und darin an Chris Markers berühmten LA JETÉE erinnernd, entwickelt der Film eine hypnotische Stringenz. Berichtet werden die außerordentlichen Erlebnisse eines Reisenden zwischen Zeit und Raum, wunderbar gespielt von Anton Diffring. Im Mai 1957 erleidet Professor Petersen (das ebenfalls „eingedeutschte“ Pendant zu Lovecrafts Professor Peaslee) einen plötzlichen Zusammenbruch und danach eine unheimliche Persönlichkeitsveränderung: Petersen benimmt sich wie jemand aus einer anderen Welt, beginnt sich mit „verbotenen Lehren“ zu beschäftigen und die menschliche Kultur zu studieren, als sei sie ihm völlig fremd. Erst im September 1962 ereignet sich die Wiederkehr seines alten Ichs; der wieder Erwachte wähnt sich noch immer in jener Situation fünf Jahre zuvor, als das Fremde Besitz von ihm ergriff. Verstörende Träume lassen ihm klar werden, wo er die Zeit verbracht hat: im Körper eines Tentakelwesens in einer seltsamen Stadt, in deren Türmen die schrecklichen „Großen Alten“ hausten. Petersens Erforschung seiner Träume und seiner eigenen Aufzeichnungen führt ihn nach Australien zu Jahrmillionen alten Ruinen…
George Moorse war gebürtiger Amerikaner, aber vor allem als Regisseur fürs deutsche TV tätig, realisierte in den 70er Jahren einige Literaturverfilmungen sowie die Genrestücke VAMPIRA und SCHATTEN AUS DER ZEIT, die sich durchaus durch Mut – und Talent – zum Experiment auszeichnen, ehe er für immer bei der „Lindenstraße“ hängenblieb. Die abstrakte Form, die er für SCHATTEN AUS DER ZEIT wählte, gibt dem Film eine eigene Faszination und Poesie, die die ihrerseits sehr poetischen Visionen H.P. Lovecrafts adäquater einfängt als der krasse Naturalismus mancher Trashfilme. Moorse wählt eine extreme, fast spröde Form der Stilisierung und schafft dennoch eine akzelerierende Dynamik selbst in der Abfolge reiner Tableaux. Die Spielszenen sind vermutlich als Film gedreht, der dann auf in einander überblendete Einzelbilder reduziert wurde. Die Traumbilder sind Zeichnungen des bayerischen Künstlers Waki Zöllner, die immer auch ein wenig an Roland Topor und LA PLANÈTE SAUVAGE erinnern. Eine der gelungensten Lovecraft-Verfilmungen überhaupt und ein Glücksfall, dass sie gerettet werden konnte. Moorse‘ anderer verlorener Horror-Film VAMPIRA sei den Archäologen von Pidax hiermit dringend ans Herz gelegt.
Das ist, wie schon gesagt, alles schwer zu restaurieren und beileibe nichts für 4K-Fetischisten. Dennoch ist die erstaunliche Arbeit, die man bei Pidax etwa in die MAIGRET-Serien gesteckt hat, nicht hoch genug einzuschätzen – britischen Veröffentlichungen etwa der QUATERMASS-Serien oder von OUT OF THE UNKNOWN keineswegs nachstehend, sondern eher sogar überlegen. Auch die Kopien dieser beiden Filme bieten kaum mehr als die Qualität durchschnittlicher TV-MAZen, aber das ist schon in Ordnung, wenn man ahnt, wie diese Sachen vermutlich gelagert wurden. Schade nur, dass sich bei Pidax immer noch kaum jemand findet, um historisches Bonusmaterial beizusteuern.
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Das Gesicht auf der Wand | BRD 1983 | Regie: Dieter Finnern | Darsteller: Michael Günther, Ursula Diestel, Ivan Desny, Siegfried Wischnewski, Antje Weisgerber, Rudolf Schündler u.a.
Schatten aus der Zeit | BRD 1975 | Regie: George Moorse | Darsteller: Anton Diffring, Ingrid Resch, Tanja Ouhlela, Arthur Schäfer, Nancy Arrowsmith u.a.
Anbieter: Pidax