Mike Flanagan (OCULUS) hat sich mit diesem Film, seiner zweiten King-Verfilmung nach GERALD’S GAME, die eigentlich nicht lösbare Aufgabe gestellt, sowohl die Fans von Stephen King als auch die Fans von Kubricks SHINING zufrieden stellen zu müssen.
Wer Kubricks Film für ein „Meisterwerk modernen Horrors“ hält, wird hier vielleicht weniger glücklich das Kino verlassen als jemand wie ich, der Kubricks Film zwar für formal brillant, aber inhaltlich kalt und darstellerisch mehr als fragwürdig hält.
Gelegentlich hat Dan über einen Zeitraum von 8 Jahren geistigen Kontakt zu dem jungen Mädchen Abra (Newcomer Kyliegh Curran), bei dem die Gabe des Shining besonders stark ausgeprägt ist. Dadurch wird allerdings auch eine bunt zusammengewürfelte und in Wohnmobilen umherreisende Gruppe von übersinnlich begabten Killern aufmerksam. Diese Gruppe um ihre Anführerin Rose (Rebecca Ferguson, LIFE) nennt sich „Der wahre Knoten“, bringt andere Begabte um und ernährt sich von deren Shining, hier „Steam“ genannt.
Mike Flanagan hat ein gemächliches Erzähltempo gewählt. Das lässt ihm Zeit für eine detailreiche Geschichte und abgerundete Charakterisierungen seiner Hauptpersonen. Wie schon in THE SHINING ziehen sich Traumata, Alkoholismus und andere Abhängigkeiten prägend durch den ganzen Film, werden von Flanagan aber erheblich realistischer behandelt als seinerzeit von Kubrick. Waren die Romanvorlage und Kubricks Version ein zeitlich begrenztes Kammerspiel in den übersichtlichen Räumlichkeiten des unheimlichen Hotels, so weitet sich die neue Geschichte zu einem Roadmovie mit verschiedensten Schauplätzen quer durch die Vereinigten Staaten und einer Zeitspanne von fast 40 Jahren.
Die Stärken des Films liegen für mich eindeutig in den ersten zwei Dritteln, während das Finale im Overlook Hotel – allem exzellenten Produktionsdesign zum Trotz – ein wenig zu vorhersehbar ausfällt. Seine echten Höhepunkte hat der Film schon vorher an anderen Stellen. Statt sich auf digitale Techniken und ihre oft recht unbefriedigenden Resulate zu verlassen, hat Flanagan die Rückblenden in Dans Kindheit und einige Schlüsselszenen aus THE SHINING mit anderen Darstellern im perfekt nachgebauten alten Ambiente neu gefilmt. So hatte er auch die Möglichkeit, zusätzliche Szenen mit Danny und seiner Mutter Wendy (Alex Essoe), sowie dem ermordeten Hotelkoch Hallorann (Carl Lumbly) zu drehen, für die es in Kubricks Film keine Vorlagen gab.
Die ganze Geschichte funktioniert jedoch hauptsächlich durch die guten Darsteller. Ewan McGregor macht sehr subtil die inneren Kämpfe mit der Vergangenheit, dem Alkohol und seiner ungewollten Gabe nachvollziehbar, während Rebecca Ferguson eine furiose Mischung aus berechnender Schmeichelei und Blutrünstigkeit vorführt. Newcomerin Kyliegh Curran bietet eine erstklassige Leistung als Abra und Cliff Curtis hat eine schöne Rolle als Helfer in der Not. Neben seinen Hauptdarstellern hat sich Flanagan auch wieder im Pool der Darsteller seiner früheren Filme bedient. So haben Henry Thomas, Bruce Greenwood, Carel Struycken, Robert Logstreet und Jacob Tremblay mehr oder weniger große Auftritte. Aus Gründen, die ich hier nicht verraten möchte, bleibt besonders Henry Thomas im Gedächtnis…
Ist der Film ein Meisterwerk? Ich habe keines erwartet und auch keines bekommen. Aber ich wurde 2,5 Stunden lang von tollen Darstellern in einer interessanten, teils unangenehmen, teils anrührenden Geschichte mit eleganten und einfallsreichen Bildern bestens unterhalten. Wer braucht da ein Meisterwerk?
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Doctor Sleep, USA 2019 | Regie: Mike Flanagan | Drehbuch: Mike Flanagan, nach dem Roman von Stephen King | Kamera: Michael Fimognari | Musik: The Newton Brothers | Darsteller: Ewan McGregor, Rebecca Ferguson, Kyliegh Curran, Cliff Curtis, Zahn McClarnon, Emily Alyn Lind, Robert Longstreet, Carel Struycken, Carl Lumbly, Jocelin Donahue, Alex Essoe, Bruce Greenwood, Jacob Tremblay, Nicholas Pryor, Henry Thomas, Danny Lloyd | Laufzeit: 152 Min.