Nicht nur kultische Rituale aus Haiti und anderen Drittweltländern liefern guten Stoff für Horrorfilme. Auch in unserer „aufgeklärten“ Welt finden sich Rituale, die uns faszinieren können, sobald sie zu unmenschlichen Horrorszenarien umgedeutet werden. Der sogenannte „Folk Horror“, der Anfang der siebziger Jahre gleichzeitig in Mode kam wie der Rückzug der Achtundsechziger aufs Land, beschrieb den Clash of Cultures zwischen Landbevölkerung und zugezogener Stadtbevölkerung. Das „Fremde“ der Landbevölkerung wird zum Grauen. Und in einer überraschenden Spiegelung der Verhältnisse kam der Landbevölkerung die Rolle des sexuell Libertären zu, das, was wir nicht erwartet hätten … – in THE WICKER MAN (1973) darf man erstaunt feststellen, dass die Einheimischen einem Fruchtbarkeitskult frönen.
Heute zieht zwar kein Städter mehr aufs Land, doch der Bruch zwischen Stadt und Land in der westlichen Welt scheint niemals zuvor so groß gewesen zu sein wie heute. Ari Aster (HEREDITARY) hat mit MIDSOMMAR einen Horrorfilm geschaffen, der in langsamen Bildern und Einstellungen ein paar amerikanische Studenten in den mittleren Norden Schwedens führt, an einen überaus hellen, ja geheimnisvoll sonnigen Ort, eingebettet in den skandinavischen Wäldern. Auch wenn der Film weitgehend auf Jump-Scare- oder Slashermomente verzichtet, ist das Grauen omnipräsent.
Die Story beginnt allerdings in den USA. Doktorandin Dani (Florence Pugh) ist psychisch labil, geht ihrem Freund Christian (Jack Reynor) mit andauernden Telefonanrufen auf die Nerven. Schnell wird klar, weshalb: Ihre Schwester Terri macht Drohungen wahr und begeht nicht nur Selbstmord, sondern tötet dabei auch noch ihre Eltern. Obwohl Christian sich eine Atempause vor Dani gönnen wollte und mit seinen zwei Freunden Mark und Josh ihrem schwedischen Freund Pelle zu einer großen Sommersonnenwende folgen wollten, kann sich Dani den Jungs anhängen. Wer will ihr das schon verwehren in dieser Situation?
Nach längerer Reise, Magic Mushrooms und langen Kameraeinstellungen erreichen die Fünf die Siedlung Harga mit ihren wenigen altertümlichen Holzbauten. Die Menschen sind keine Amerikaner und trotzdem immer lächelnd und freundlich – als wären sie keine griesgrämigen Europäer (wenn das nicht schon verdächtig ist?!). Alle weiß gekleidet und nach einem Ritual vorgehend, das ein paar Tage dauert und immer wieder neue Überraschungen bietet, Mystisches und Erschreckendes. Und die Sonne geht nie unter und das gleißende Sonnenlicht verleiht der Szenerie etwas Unwirkliches.
Das heidnische Ritual wird angeblich nur alle 90 Jahre begangen. Das ist der Grund, weshalb die verunsicherten Jungs da bleiben: Darüber lässt sich eine feine ethnologische Arbeit schreiben, gerade auch weil die kultischen Handlungen bizarrer und unverständlicher werden. Grauenhafte kultische Handlungen mischen sich mit übertrieben schönen. Dani und Christian werden immer mehr in die Zeremonien mit einbezogen – der Film ist eben (auch) eine Geschichte der Trennung, die hier auf einer anderen filmischen Ebene inszeniert wird, mit der die Reise nach Schweden auch als läuternde Reise ins Innere von Dani verstanden werden kann.
Ebenso unternehmen die Fremden aber auch eine Reise in eine europäische Welt, die sich nicht mehr an die christlichen Fundamente halten will. Regisseur Ari Aster verweist durchaus auch auf den boomenden rechten Nationalismus in Europa (in Schweden repräsentiert durch die Schwedendemokraten), der ja so gerne das vorchristliche Heidnische verehrt. Tatsächlich, die christliche Tradition wird in den Namen der drei Amerikaner Christian (= Christ, Christus), Mark (= Markus) und Josh (der Name ist eine Verbindung aus Jahwe/Gott und jascha/retten) repräsentiert und die Amis werden von den schwedischen Heiden als invasiv und ärgerlich aggressiv betrachtet.
Ari Asters Film ist nicht nur verstörend, sondern auch – wie er meint – ein Märchen. Märchen, Trennungsgeschichte, Politallegorie… aber nicht zuletzt ein langsam zupackender immer aufwühlenderer, in Helligkeit getauchter Horrorfilm.
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Midsommar | USA / Schweden 2019 | Regie: Ari Aster | Kamera: Pawel Pogorzelski | Darsteller: Florence Pugh, Jack Reynor, Will Poulter, William Jackson Harper, Vilhelm Blomgren u.a. | Laufzeit: 148min., Directors Cut: 171 min.