„Es wird einen Aufschrei geben. Es wird sicher Leute geben, die einen ganz anderen Freud sehen und ein ganz anderes Bild von ihm haben.“ Marvin Kren
Regisseur Marvin Kren geht jedoch mit seiner Fiktion über eine reale Figur weniger clever um als etwa Quentin Tarantino – jeglicher Aufschrei über die ORF/Netflix-Serie FREUD ist gerechtfertigt. Es stimmt zwar, dass Sigmund Freud sich in seiner frühen „Lehrzeit“ nicht nur von Hysterie-Forschungspartner Josef Breuer (Merab Ninidze) beeinflussen ließ, sondern auch eine Faszination für die Hypnose entwickelte. Dass er jedoch selbst eine neurotische Persönlichkeit mit hohem Kokainkonsum war, die sich nachts in den dunklen Straßen Wiens herumtrieb und eher zufällig das Puzzle einer verbrecherischen Politverschwörung aufdeckte, ist dann üble Fake-News. Das könnte man allerdings gern akzeptieren, wenn in FREUD ein bisschen was vom Genie Freuds stecken würde. Vom Genie Sigmund Freuds würde man sich die Aufdeckung eines Kriminalfalls über die Analyse von Fehlleistungen, Träumen oder Freudschen Versprechern erhoffen, raffinierter als Sherlock Holmes und Hercule Poirot zusammen, so clever, dass sich selbst der heutige Zuschauer verwundert die Augen reiben würde über sein derart kenntnisreiches Verständnis dessen, was sich im Unbewussten der Menschen abspielt. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Die Schriften Freuds lesen sich streckenweise tatsächlich so spannend wie ein guter Whodunnit-Krimi.
In der neuen Serie merkt man allerdings nichts von der Macht der Psychoanalyse, wie sie noch in John Hustons FREUD (1962, basierend auf einem Drehbuch von Jean-Paul Sartre) ausgiebig verdeutlicht wurde und zuvor in Alfred Hitchcocks SPELLBOUND (1945, mit Traumsequenzen von Salvador Dali) clever zur Lösung des Krimiplots beitrug. Doch in gefährlich unwissenschaftlich werdenden Zeiten wie diesen will man sich nicht mehr mit der Wahrheit beschäftigen, sondern verschleiert sie lieber durch Hokuspokus. Womit wir bei der Handlung wären. Schnell skippt die erste Folge zu einer blutüberströmten Prostituierten und wir wähnen uns im London Jack the Rippers. Freud (Robert Finster) kommt dazu und schafft es jedoch nicht, sie zu retten. Doch er entwickelt eine vertrauensvolle Beziehung zum kauzigen Inspektor Kiss (Georg Friedrich) und dessen Faktotum Poschacher (Christoph Krutzler). Kiss selbst ist ein aufrichtiger Staatsangestellter und wäre eigentlich auch ein Fall für die Couch. Wie andere in der Serie wird er geplagt von Erinnerungen an den Krieg, wird von Freud aber nur halbpatzig und ohne Gewinn behandelt.
Nach wenigen Verästelungen und falschen Fährten der Handlung, in denen wir mit Kiss und Freud grausame Mörder verfolgen und gewisse Spuren selbst an Freuds Arbeitsort führen, die Neuropathologie in Wien unter der Leitung von Theodor Meynert, wird schnell einmal klar, dass es hier um einen ganz großen Politskandal geht. Alle Spuren führen nämlich in den großen historischen Konflikt Österreichs im 19. Jahrhundert: der Krieg und der Zusammenschluss mit Ungarn. Wie beim Vietnamtrauma scheint jedes persönliche Schicksal davon betroffen. Doch es geht um mehr: Die geheimnisvollen ungarischen Aristokraten Sophia von Szapary (Anja Kling) und ihr Mann Viktor von Szapary (Philipp Hochmair) sind nicht nur beschlagen in Hexenkunst und schmieden in ihrem Palais Szapary einen Plan, der sich gegen die österreichische Elite richtet. An ihren schwungvollen Parties veranstalten sie auch Séancen mit Totenbefragungen, an denen Freud in Kontakt kommt mit dem wahrhaft parapsychologisch begabten Medium Fleur Salomé (Ella Rumpf), deren übersinnliche Fähigkeiten auch mit einer gehörigen Portion Sinnlichkeit einhergehen.
Nach den ersten Folgen der Serie ist man als Zuschauer durchaus noch Feuer und Flamme für Freud und Fleur. Da ist noch Spannung, Drama, Blut und Sex drin. Doch was sich ziemlich aufregend angeht, mündet bald in allzu platte Anwendung von Zauber- und Manipulationstechniken. Plötzlich sind wir im ungarischen Hexenwesen angelangt. Fleur ist eine Taltos (Seherin, Hexe, Geisterbeschwörerin, …), die unglaublich große Fähigkeiten hat. Sophia ist ebenfalls mit Taltos-Fähigkeiten beschlagen, die manchmal zwar mächtiger wirken, es dann aber trotzdem nicht sind („Fleur hat eine Gabe, ich habe eine Methode“). Doch das Ziel ist politisch dubios (Vorsicht, Spoiler!): Nationalisten wollen die liberalen Teile der Regierung für ihre radikalen Ziele nutzen.
Genau so Dubioses geschieht, wenn dann alle Dämme brechen in der Serie und sich der Hokuspokus freie Bahn verschafft: Banale Traumsequenzen wechseln mit blutigen Szenen und Sex. Auch Freud hat das Vergnügen mit Fleur, doch er kommt mit ihrer geballten Erotik im Endeffekt nicht klar. Nicht nur, weil der steif agierende Robert Finster sich als völlige Fehlbesetzung herausstellt (was hätte Freud wohl zu Fehl-Besetzungen in Filmen gesagt? Er hätte sie wohl in seine Liste der Fehlleistungen aufgenommen), sondern auch, weil Freud dann wieder der „echte“, historische Freud werden muss. Und so meint seine zukünftige Ehefrau Martha nach dem Geständnis seines Fremdgangs: „Du unterschätzt die Macht der Genitalien, Sigmund. Vor allem die deiner eigenen.“ Worauf der Herr die Macht der Genitalien in seinen Werken dann nicht mehr unterschätzt hat.
Doch so viel sei wahr: 81 Jahre nach seinem Tod hat sich der wirkliche Sigmund Freud – nach Sichtung der Serie – dann noch einmal im Grabe umgedreht.
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Freud | Österreich, Deutschland, Tschechien 2020 | Regie: Marvin Kren | Darsteller: Robert Finster, Ella Rumpf, Georg Friedrich, Brigitte Kren, Christoph Krutzler, Anja Kling, Philipp Hochmair u.a. | 1. Staffel: 8 x 55min.
Die Serie läuft auf Netflix