Wir schaffen das.

Nachdem sich Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch) und eines seiner Mädchen aneinander aufgegeilt haben, fällt die Tür zu, und es wird lautstark gebumst. Sein Handlanger Francis (Welket Bungué) muss sich das nicht nur im Nebenzimmer anhören, sondern später auch das Mädchen trösten, weil es wie Dreck behandelt wurde. Francis versteht zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sein vermeintlicher Freund mit allen so vorgeht – auch mit ihm: Erst schmeichelt Reinhold den Leuten ein wenig, dann nutzt er sie aus, und schließlich wirft er sie weg.

Burhan Qurbanis Adaption von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ verlagert die Handlung in die Gegenwart und macht aus dem Knasti Franz Biberkopf den Geflüchteten Francis aus Bissau. Dessen Wunsch, ein normales Leben zu führen, treibt ihn wegen widriger Umstände in die Fänge Reinholds. Zunächst beginnt Francis als Caterer für die Dealer im Görlitzer Park, fällt dann wegen seiner Ehrlichkeit in Ungnade, landet deshalb bei der Edel-Hure Mieze (Jella Haasen als Berliner-Gören-Version von Jean Seberg) und kehrt schließlich doch wieder zu seinem Ausbeuter zurück.

Auch wenn die literarische Vorlage im Film präsent bleibt – etwa durch die Einteilung in Kapitel, das Voice Over und die aus dem Roman übernommene Parallele zum Leidensweg Hiobs – entsteht eine in sich schlüssige Mischung aus Großstadtpanorama, Gangsterfilm und Liebesdrama. Die Bilder sind episch breit, der Stil ein monumentaler, stylisher Realismus, und von Dascha Dauenhauer gibt es einen klassischen Orchester-Score, wie man ihn nicht mehr so oft zu hören bekommt.

Qurbani vertraut dabei stets der Geschichte, presst dabei aber die Gegenwart in keine Literaturverfilmungs-Schablone, sondern stellt sich die Frage, was es eigentlich bedeutet, Flüchtling zu sein. „Neue Welt“ heißt ein Club, in den es den traumatisierten jungen Mann mehrmals verschlägt, und er will nicht nur ein neues Zuhause finden, sondern auch selbst ein anderer werden. Sich nach einer langen, beschwerlichen Reise endlich niederzulassen und einen deutschen Pass zu bekommen, bedeutet für ihn auch, als Mensch endlich vollkommen zu werden.

Nur wegen Francis’ Verwundbarkeit ist die toxische Männerfreundschaft überhaupt möglich. Während Reinhold als extravaganter, sich manieriert verrenkender Mephisto inszeniert wird, bei dem kindliche Naivität jederzeit in Bösartigkeit umschlagen kann, bleibt Francis betont passiv. Ein wenig hilflos steht er herum, während ihn sein falscher Freund mit zwei Huren umkreist und überlegt, welchen neuen Namen man ihm geben könnte. Schließlich tauft Reinhold ihn Franz, und das ist weniger eine Verbeugung vor dem Roman als Ausdruck einer Fremdbestimmung.

Auch Francis’ anfängliche Impotenz ist eng mit der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal verknüpft. Reinhold nutzt diese Unsicherheit schamlos aus. Er schenkt Francis etwa ein rassistisch gemeintes Gorillakostüm, weil er weiß, dass sein Freund mit den „treuen Augen“ es auch anziehen wird. Im Gegensatz dazu basiert die Beziehung zu Mieze auf gegenseitiger Fürsorge. Weil sie ihn nach einem Unfall pflegt, will er sie aus der Prostitution holen. Dass diese aufrichtige Liebe keine Chance hat, liegt nicht nur an Reinholds Sabotageakten, sondern auch daran, dass Francis sich selbst noch nicht gefunden hat.

BERLIN ALEXANDERPLATZ endet mit einer Art Wiedergeburt. Aber Qurbanis Protagonist kann dadurch nicht nur der anständige Mensch werden, der er immer sein wollte, sondern auch eine Identität annehmen, in der sich Fluchtgeschichte und Deutschsein nicht widersprechen. Einmal steht Francis wieder im Flüchtlingsheim, um neue Dealer anzuwerben. Nachdem er zunächst erfolglos versucht, Reinholds Programm zu kopieren, findet er schließlich eine eigene Stimme. Es wäre ein Leichtes gewesen, einen Monolog, der mit den Worten „Ich bin Deutschland“ endet, in den Sand zu setzen. Stattdessen wird daraus eine packende Szene über den Wunsch, endlich anzukommen.

___________________________________________________________________

Berlin Alexanderplatz, Deutschland 2020 | Regie: Burhan Qurbani | Drehbuch: Martin Behnke, Burhan Qurbani | Kamera: Yoshi GHeimrath | Musik: Dascha Dauenhauer | Darsteller: Jella Haase, Albrecht Schuch, Martin Wuttke, Nils Verkooijen, Welket Bungué, Joachim Król, Lukhanyo Bele, Annabelle Mandeng, Thomas Lawinky, Lena Schmidtke, Mira Elisa Goeres, Benny O.-Arthur, Derek Meisenburg, Richard Fouofié Djimeli, Faris Saleh | Laufzeit: 183 Min.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erschienen auf critic.de