Der Schacht muss eigentlich ein gigantisches Hochhaus sein. Doch das sehen wir nie, denn wir befinden uns den gesamten Film über im Innern dieses klaustrophobischen Turms, in dem jeweils zwei Menschen pro Stockwerk gefangen gehalten werden. Die einen fühlen sich tatsächlich als Gefangene, die anderen sind da, weil ihnen nach dem Aufenthalt ein Versprechen erfüllt wird. Doch auf einmal befinden sie sich alle in einer Welt mit eigenen Regeln.
Im obersten Stockwerk wird ein Festmahl zubereitet, das auf einer großen Tischplatte hergerichtet Stock um Stock herabfährt, durch ein Loch in der Mitte. Gezählt werden die Stockwerke von oben nach unten. Wer im ersten Stock lebt, hat die ganze Auswahl köstlicher Speisen und fühlt sich wie im Schlaraffenland, wer im 333sten, untersten Stock lebt, ergattert nicht mal mehr die Knochen der Hähnchen. Jeden Monat werden die Zweierpaarungen und die Stockwerke neu und zufällig zugeteilt.
Doch DER SCHACHT ist nicht nur eine Dystopie, sondern auch eine Art Horrorfilm. Denn der Kampf um die Nahrungsmittel ist gnadenlos. Die oberen Bewohner fressen einfach rücksichtslos drauflos, sind unsolidarisch und wenn sie Lust haben, kacken sie auch mal auf die Essreste, auf dass die unteren nur noch zwischen Nichts und Resten mit Scheiße wählen können. Das führt zu grusligen, gnadenlosen und blutigen Szenen. Goreng (Ivan Massague) ist ein feinfühliger Intellektueller, ein Sozialist, der nicht zufällig ein Buch als Mitbringsel auswählte: den „Don Quijote“. Und wie der Ritter der traurigen Gestalt sieht Goreng auch aus. Immer wieder versucht er, die Nahrungsmittelverteilung des Schachts etwas lebenswerter zu machen. Getrieben wird er vom Wunsch nach gerechterer Essensverteilung über die 333 Stockwerke, den er mal mit Zureden, mal mit sanfter Drohung zu erreichen versucht.
Sein Stockwerkpartner im ersten Monat, Trimagasi (Zorion Eguileor), ist ein älterer, schrulliger Herr und darf, den Cervantes-Anspielungen entsprechend, als eine Art Sancho Pansa gelten. Jedenfalls bringt er eine gehörige Portion Abgeklärtheit mit: Ihm geht es, wie den meisten anderen Gefangenen, einfach ums Überleben. Und wer die Möglichkeit hat, einen Monat in den oberen Stockwerken zuzubringen, der wird so viel Leckereien in sich hineinstopfen, wie er kann und – naja – auf alle anderen scheißen. So ist der Lauf der Welt.
Darum hat Trimagasi als Mitbringsel sein grosses Messer „Samurai Plus“ dabei. Waffe statt Buch. Und das macht Sinn für Trimagasi, denn schon nach kurzer Zeit findet sich Goreng auch nach dem Schlaf gefesselt vor. Trimagasi will Gorengs Körperfleisch essen und bittet den armen Gefesselten, doch auch von seinem eigenen Muskelfleisch zu essen: „Dein Fleisch hält länger, wenn du mitißt. So stirbst du nicht gleich und das Fleisch bleibt länger genießbar“. Während Goreng wie Don Quijote die Welt des Idealismus und der Ideen vertritt, wird der bodenständige Trimagasi wie Sancho Panza von einem desillusionierten Realitätsprinzip getrieben.
Doch die kannibalistischen Gelüste Trimagasis sind erst der Einstieg. Immer wieder gibt es neue Versuche, dem Wahnsinn zu entkommen (bzw. anderen Menschen und der Ungerechtigkeit), ihn wenigstens mit etwas Menschlichkeit zu versehen, oder gar den Organisatoren des Schachts eins auszuwischen – indem Goreng und ein weiterer Partner versuchen, eine kleine Panacotta unberührt wieder zurück nach oben zu lotsen. Einfach als symbolische Handlung, die der Macht einen Gegenwillen aufzeigt. In DER SCHACHT zeigen sich Machtverhältnisse und Klassengesellschaft, wie wir sie auf andere Art bereits aus HIGH RISE oder SNOWPIERCER kennen. Dass die Klassengesellschaft in vielen guten Filmen wieder derart ein Thema ist, kann natürlich kein Zufall sein im definitiv aus den Fugen geratenen Kapitalismus der 2010er Jahre. Ad absurdum geführt wird hier die Wirtschaftstheorie der „Trickle Down Economics“ – der Idee, dass von oben produzierter Reichtum langsam nach unten durchsickert. Hier sickert kein Reichtum zu allen durch, viel eher zeigt sich in dieser Gesellschaftsstruktur das Prinzip des Nach-unten-Treten überdeutlich.
DER SCHACHT hat einige Blut- und Schockmomente, die aber lediglich die Tristesse des Systems verdeutlichen, das auf Gewinner und Verlierer angelegt ist und sich längst der Menschlichkeit entledigt hat. Dabei fokussiert DER SCHACHT auf das Individuum, das versucht, etwas am System zu verändern. Schwierige Sache, toller Film.
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El Hoyo / The Platform, Spanien 2019 | Regie: Galder Gaztelu-Urrutia | Drehbuch: David Desola, Pedro Rivero | Musik: Aranzazu Calleja | Kamera: Jon D. Dominguez | Darsteller: Ivan Massague, Antonia San Juan, Zorion Eguileor, Emilio Buale, Alexandra Masangkay | Laufzeit: 94 min.
Anbieter: Netflix