Night Fever.

Wer sind eigentlich die bedeutenden Regisseure des laufenden Jahrtausends, die sich mit Grauen und Horror auseinandersetzen? Da mögen einem Ari Aster, Jordan Peele oder Robert Eggers einfallen, die jedoch erst in den letzten 3 bis 5 Jahren ihre ersten großen Horrorfilme veröffentlicht haben. Wie Autor Adrian Gmelch gegen Ende seines Buchs aufzeigt, nennen einige dieser Regisseure explizit M. Night Shyamalan als einen der Regisseure des neuen Jahrtausends, der als wahrer Meister düsterer Stimmungen bezeichnet werden darf. Auch Ross and Matt Duffer oder Bong Jong-ho fühlen sich beeinflusst vom Regisseur von THE SIXTH SENSE.

Ja, THE SIXTH SENSE. Für manche ist der Psychothriller von 1999 immer noch der Shyamalan-Film überhaupt. Zu unrecht – und (für die, die es nicht wissen): Längst sind auch andere Shyamalan-Filme ebenso erfolgreich und mindestens genauso ideenreich und überraschend wie dieser „Ur-Shyamalan“. Womit wir bei Adrian Gmelchs Buch „Die Neuerfindung des M. Night Shyamalan“ wären. Gmelch ist Fan, Fachmann und Fachautor, wenn es um Horrorfilme geht und bei Splatting Image kein ganz Unbekannter.

In seinem sehr süffig geschriebenen Buch teilt er Shyamalans Werk in – grob gesagt – drei Schaffensphasen ein, die mehr oder weniger gute Filme hervorgebracht haben. Die Phasen sind beeinflusst von den Erwartungen der Öffentlichkeit an ihn, von seinem Streben nach kreativer Unabhängigkeit und nicht zuletzt von seiner Haltung, Neues zu wagen. Einfach gesagt: So genial und einflussreich THE SIXTH SENSE war, so sehr definierte der Film auch Erwartungen der Studios und des Publikums für seine folgenden Jahre als Regisseur. Erwartungen, die ihn auch nach großartigen Filmen wie UNBREAKABLE immer mehr in ein kreatives Abseits mit immer höheren Budgets führten. THE LAST AIRBENDER (2010) und die Will-Smith-Produktion AFTER EARTH (2013) entpuppten sich, nach dem bei Kritikern bereits gefloppten Öko-Thriller THE HAPPENING (2008), als von Produzenten dominierte Flops.

Für Shyamalan Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Nun beginnt die „dritte“ Schaffensphase, auf die sich Gmelchs Buch konzentriert. Er erzählt zwar ausführlich und detailreich (aber nie zu abschweifend) von den Anfängen des Regisseurs, von den frühen Erfolgen der ersten Phase wie den Misserfolgen der zweiten, doch Gmelchs Buch konzentriert sich eigentlich – dem Buchtitel entsprechend – auf dessen „Neuerfindung“. Denn mit THE VISIT (2015) beginnt nicht nur eine Phase mit ideenreichen, stimmungsvollen Filmen, sie geht auch einher mit einer Art, sich völlig unabhängig von den großen Hollywoodstudios zu finanzieren. Shyamalan nimmt eine Hypothek auf sein Haus auf und produziert THE VISIT gleich selbst, den vielleicht stilvollsten „Found Footage“-Film überhaupt. Nachdem kein großes Studio am Vertrieb des Endprodukts interessiert war, geht er mit Micro-Budget-Billigproduzent Jason Blum einen Deal ein. Das Resultat: Blumhouse Productions brachte THE VISIT ins Kino und der Film spielte 100 Millionen Dollar ein.

Seither arbeitet Shymalan im Vollbesitz seiner künstlerischen Freiheiten mit Blum zusammen. Und das hat sich ausbezahlt. Gmelchs Buch zeigt auf verständliche Art auf, was die „neuen“ Filme Shyamalans ausmacht. Eine Nähe zu David Lynch beispielsweise wird bei allen Unterschieden doch immer wieder in den Filmcharakteren, im Framing und im Sounddesign deutlich. Neue Kameraeinstellungen wie Zoom, Unschärfen, in der Cadrage „abgeschnittene“ Köpfe erschließen für einen Regisseur wie Shyamalan, bei dem Kameraeinstellungen Bedeutungsträger sind, neue inhaltliche Ebenen. Nicht zuletzt tragen auch neue Farbgebungen und Motive dazu bei, dass es einen „neuen Shyamalan“ gibt, einen, der seine Kreativität entkrampfter sprudeln lassen kann und stets auf hohem visuellem und inhaltlichem Niveau Filme erschafft, die ihresgleichen suchen. Das gilt übrigens auch für „seine“ Streamingserie SERVANT (Apple+), die nicht nur ausgezeichnet sein soll, sondern auch viele andere weibliche Nachwuchs-Regietalente wie die Schweizerin Lisa Brühlmann (BLUE MY MIND), Isabella Eklöf (HOLIDAY, Scriptwriterin THE BORDER) oder Julia Ducournau (deren TITANE dieses Jahr die Goldene Palme gewann) fördert. Auch hier wird Shyamalan eine jüngere Generation beeinflussen.

Details wie diese kommen in Gmelchs Buch zuhauf vor. Ohne den Blick fürs Ganze aus den Augen zu verlieren, ist Gmelchs Buch gleichzeitig ein üppiges Kompendium an Wissen zu Shyamalans Arbeit, zu seiner Treue zu DoPs und Komponisten, zum Verlauf der Filmentstehung. Und nicht zuletzt versucht Gmelch zwar ein Fan zu sein, aber eben auch ein Filmkritiker, der die Filme des Meisters auch mit möglichst objektiven Mitteln zu beurteilen sucht. Die Anzahl der Einstellungen und die Average Shot Length (ASL) etwa sind Mittel im Interpretationsfundus Gmelchs, die natürlich Rückschlüsse auf die Art, Geschichten zu erzählen, zulassen. (Keine Angst, im Text sind sie nicht überproportional eingebaut – wer aber mehr Filmmathematik will, kann in den Anhang skippen.)

Mit „Die Neuerfindung des M. Night Shyamalan“ ist Adrian Gmelch ein reifes Erstlingswerk gelungen, dass für Filmfreunde aller Couleur interessant ist. Weil es auf verständliche Art nicht nur den neuen Shyamalan porträtiert und charakterisiert, sondern die gesamte Karriere des Regisseurs beleuchtet.

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Adrian Gmelchs „Die Neuerfindung des M. Night Shyamalan. Wie sich ein einst gefeierter Filmemacher zurück an die Spitze kämpft“ ist 2021 im Büchner Verlag in Marburg erschienen