Der Körper ist die Wirklichkeit.

CRIMES OF THE FUTURE geht unter die Haut: Der neue Cronenberg-Film nimmt sich ein in seinem Werk oft präsentes und auch gesellschaftlich immer relevanteres Thema vor. Die künstlichen Körperveränderungen, die wir selbst aus freiwilligen Stücken durchführen. Tätowierungen, Piercings, Brandings und vieles mehr sind noch lange nicht das Ende der Fahnenstange, zeigt uns Cronenberg.

In einer Welt, die immer komplexer wird und die Lebensbedingungen der Menschheit in vielerlei Hinsicht herausfordert, müssen sich die Menschen auch körperlich anzupassen wissen. Organe müssen verändert werden. Diese Entwicklung wird von der Behörde des nationalen Organregisters überwacht, denn es entstehen auch den staatlichen Interessen zuwiderlaufende Tendenzen, oft einfach moralischer Art. Innere Organe modifizieren oder gar neue wachsen zu lassen ist ein zweischneidiges Schwert und kann tatsächlich zum Zukunftsverbrechen werden.

In einem juristischen Zwischenbereich agieren Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux). Sie bringen das Thema Kunst und Kunstfreiheit in die Diskussion ein, indem sie Performances veranstalten, in denen Caprice vor Publikum Tensers Bauch öffnet und im Wirrwarr neugeschaffener Organe einige davon tätowiert. Dabei liegt Tenser in einer Art Grab, das skelettartig aussieht, wie von H.R. Giger erschaffen. Der Performance haftet dabei etwas geradezu Religiöses, Mystisches an. Das Künstlerpaar Tenser/Caprice nutzt dabei eine Störung, die Tenser dazu zwingt, ständig neue innere Organe zu entwickeln („Accelerated Evolution Syndrome“). Gleichzeitig verursacht das Syndrom in Tenser ständige Verdauungs- und Atembeschwerden – und es ist geradezu schmerzhaft, Tenser auf einem bizarren Stuhl beim Essen zuzusehen, das kaum noch klappt.

Nicht zuletzt verweist Viggo Mortensens Darstellung von Tenser damit auf das Altwerden: Er hat Probleme mit seinem Körper, er ist verletzlich, er hat Probleme beim Schlucken, und als die von den Performances faszinierte Bürokratin Timlin (Kirsten Stewart) ihn zum Sex verführen möchte, meint er, er sei nicht gut im old-fashioned Sex. Natürlich reflektiert Cronenberg in CRIMES OF THE FUTURE in Tenser auch seine Position als alter Künstler (schließlich ist Viggo Mortensen inzwischen so etwas wie sein Alter Ego): Geht es doch bei Tensers bewusster tumoraktivierender Produktion von Organen und deren künstlerischer Bearbeitung um eine Schöpfung – insbesondere bei der von Tenser erfundenen „Organographie“, dem Beschriften von inneren Organen.

Am Anfang des Films schockiert uns Cronenberg mit einem Jungen, der stirbt. Schlimmer noch: Der junge Brecken wird von seiner Mutter umgebracht, weil er die angeborene Fähigkeit hat, Kunststoffe essen und verdauen zu können. Zuviel für die Mutter. Aber ein Hinweis auf die heutige Zeit, in der sich Mikrokunststoffe im Meer, im Trinkwasser, in Lebensmitteln befinden. In uns. Und nicht zuletzt ist es ein Hinweis von Cronenberg selbst, auf die Zukunft der Gesellschaft einen kritischen Blick zu werfen: „Es (das Kind – A.d.V.) ist die Zukunft, aber sie ist von Anfang an tot“.

Eine düstere Ahnung der Zukunft vermittelt auch die sehr trübe und deprimierende Grundstimmung des Films. Der Drehort Athen atmet manchmal zwar einen Hauch von Meer und Weite, aber eigentlich huschen die Charaktere durch einsame Straßen, umgeben von verfallenden Gebäuden, seltsam abgenutzten Innenräumen oder geradezu kafkaesk altmodischen Bürogebäuden. Die verrosteten Meerschiffe an Land, in denen Tenser die Geheimpolizei trifft, künden vom Gestrandetsein der Menschheit.

Tenser soll eine Gruppe radikaler Evolutionisten infiltrieren, welche die Absicht haben, ihr eigenes Verdauungssystem so zu verändern, dass sie Kunststoffe und andere synthetischen Chemikalien essen können. Ein lila Schokoriegel aus Giftmüll erhält dabei eine ähnlich subversive Funktion wie die fleischige Videokassette aus VIDEODROME („Long live the new flesh!“): Ein Symbol dafür, wie sich der Körper der Menschen verändert. Der prometheische Wunsch der Menschen, über die Natur (des Körpers) hinauszuwachsen und ihn nach eigenem Gutdünken zu verändern – und so vielleicht zu überleben. Das, was der Junge am Anfang des Films bereits gekonnt hätte.

Cronenbergs Credo, „Der Körper ist die Wirklichkeit“, ist auch in CRIMES OF THE FUTURE der Ort, an dem sich der Geist entwickeln kann und ein wenig Transzendenz möglich ist. Der Körper ist alles und Geist kann nur dem Körper entspringen.

Crimes of the Future
Kanada / Griechenland 2022
Regie, Drehbuch: David Cronenberg
Musik: Howard Shore
Kamera: Douglas Koch
Darsteller: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Scott Speedman, Don McKellar, Nadia Litz u.a.
Laufzeit: 108 min.