Ein Kampf gegen sich selbst.

Der Untergang der Hamburger Gängeviertel, 1880-1980

Dokumentarfilm über den „Sumpf im Innern Hamburgs“, die übel beleumundeten historischen Viertel in der Alt- und Neustadt, die zu den größten Slums Europas zählten und zwischen 1880 und 1939 fast vollständig geschleift wurden. Das fulminante, in über zehn Jahren geschaffene Sechsstunden-Epos von Andreas Karmers verbindet 100 Jahre Stadtgeschichte mit einem Familienalbum über drei Generationen, dazu Revolutionendrama, Architekturkritik, Hamburg-Bashing u.v.m.

In früheren Jahren der Berlinale gab es regelmäßig den einen großen Klotz, einen gesellschaftspolitisch relevanten Film, den alle sehen wollten und der eifrig diskutiert wurde – der rund neunstündige SHOAH (1985) von Claude Lanzmann oder der rund siebenstündige SATANSTANGO (1994) von Béla Tarr waren solche Mega-Ereignisse. Von ähnlichem Kaliber ist nun WIR WAREN DAS DUNKLE HERZ DER STADT. Der Film kommt praktisch aus dem Nichts, der Name des Regisseurs Andreas Karmers war bisher nur Kunstkennern bekannt. Multitalent Karmers ist Maler, Fotograf, Verleger, Hörbuchmacher, Musiker und was gerade so anliegt. Was für ein Entrée in die Kinowelt!

Natürlich werden sich in erster Linie die Hamburger um den Film reißen, alle, die ihre Stadt kennen oder zu kennen meinen. Denn Karmers zeigt uns ein Hamburg, das es nicht mehr gibt, das „planvoll“ zerstört wurde (nicht erst durch den Zweiten Weltkrieg), und das einen wehmütig machen kann, weil es so malerisch und quicklebendig war. Prinzipiell aber dürften sich alle angesprochen fühlen, die wissen wollen, wie und wieso auch andere deutsche Städte plötzlich ihren mittelalterlichen Kern opferten.

Der Historiker Volker Plagemann formuliert es so: „Diese Destruktionen sind (…) kennzeichnend für ein hier besonders ausgeprägtes Zukunftsbewusstsein, das sich entschlossen von der Vergangenheit distanziert.“ („Kunstgeschichte der Stadt Hamburg“, Seite 214) Man wollte einer neuen Zeit den Weg bahnen – mehr Licht, mehr Raum, mehr Verkehr, mehr Tempo, mehr Konsum, mehr Profit. Und übertrieb es wohl dabei. So notwendig Stadterneuerungen immer wieder sind, war das Vorgehen in Hamburg besonders rücksichtslos bis kriminell. Kunsthistoriker Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, sprach von einer „Selbstzerstörungswut“ der Stadt.

Gängeviertel, das sagt sich heute so leicht, in Hamburg denkt man gewöhnlich zuallererst an das Klümpchen Backsteinbauten nahe dem Gänsemarkt, ein putziges Stück linker Besetzerfolklore. Die wahren Dimensionen sind fast völlig vergessen: Gängeviertel, das waren die historisch gewachsenen Kleinbürger- und Arbeiterhäuser im Zentrum bis zum Hafen runter, viele in Fachwerk ausgeführt, aber auch architektonisch reizvolle Zeugnisse aus der Renaissance oder dem Barock. Johannes Brahms und Felix Mendelssohn Bartholdy wurden hier geboren.

Im 19. Jahrhundert wurden die Viertel zunemend als Hort von Elend und Armut, Brutstätte von Kriminalität und Prostitution geschmäht. Trotzdem lebten viele gern dort, für sie war das alles ja normal, z.B. die Ahnen des Regisseurs, der ihnen und allen anderen nun dies Denkmal setzt, allen voran seinem Großvater Walter Wedstedt (gesprochen von Till Hagen). Der nicht unsympathische, wenn auch ungefestigte Herr wurde zum Spielball unsicherer Zeiten und ließ sich aus Liebe, Missverständnissen und Enttäuschung auf die falsche Seite treiben. Ein überaus deutsches, bewegendes Schicksal.

30 professionelle Sprecher/innen (u.a. Helmut Krauss, Wilfried Dziallas, Ulrich Tukur) tragen historische Texte vor, in denen Baudirektoren, Dichter oder gewöhnliche Bürger über die Viertel berichten, manchmal schwärmen, sich meistens aber ereifern. Es geht um unhygienische Wohnverhältnisse (Wasser und Toiletten gab es nur im Hof), „lichtscheues Gesindel“, „Laster, Stumpfsinn und Verzweiflung“. Ganz besonders hart trifft es die „Judenbörse“, einen Straßenmarkt, der angeblich „Nase und Augen beleidige“ – haarsträubender, damals gängiger Antisemitismus, der Nimbus von Hamburg als liberaler, weltoffener Stadt verflüchtigt sich. Ähnliches Gegeifere hört man später nur noch über den „verseuchten Stadtteil“ Hammerbrook. Die Polizei beklagte die Unübersichtlichkeit und Unwegbarkeit der Gänge, Adolf Hitler war die „Hochburg“ der Kommunisten ein Dorn im Auge.

Die drei Gängeviertel wurden von 1880 bis 1939 (Kriegsbeginn) „niedergelegt“ bzw. „flächensaniert“, also fast vollständig abgerissen, zum Beispiel für die heute weltberühmten Touristik-Hotspots Kontorviertel (mit dem Chilehaus) und Speicherstadt, für Magistralen (Mönckebergstraße), U-Bahn, moderne Kaufhäuser (Karstadt) und Bürobauten. Nur von den sauberen, lichten, geräumigen neuen Wohnhäusern gab es dann doch nicht so viele wie geplant bzw. versprochen. Dafür wurden die Hausbesitzer enteignet, mehr als 100.000 Menschen zwangsgeräumt. Wo sie abblieben, war ihre „Privatsache“. Die Grundstücke verkaufte die Stadt dann weiter an Investoren… Rechtsanwalt und Senator Dr. Carl Braband durchschaute das böse Spiel seiner Kollegen, bemühte die Justiz – doch verurteilt wurde niemand. Danach wurde Braband mit soviel Schmutz beworfen, dass er mit nur 44 Jahren an einem Herzinfarkt starb.

Um es kurz zu machen: WIR WAREN DAS DUNKLE HERZ DER STADT ist einer der interessantesten, wichtigsten, besten Hamburg-Filme überhaupt, in meiner Top Ten ist er auf jeden Fall. Nicht-Hamburger, die an Deutschlands Schicksalsjahren mit Weltkriegen, Revolten und Revolutionen interessiert sind, werden genauso angetan sein. Die Materialfülle ist beinah erschlagend. Was Andreas Karmers an historischen Fotos und ein paar Filmausschnitten auffährt, ist kolossal. Vieles war noch nie zu sehen, darunter Abzüge von auf dem Flohmarkt gefundenen Glasplatten. Es gibt ein paar Hafenbilder aus unserem „schwarzen, geteerten Venedig“, da bleibt einem die Spucke weg. Herausragend sind die frappierenden Überblendungen vom früheren Erscheinungsbild hin zum heutigen, meist ernüchternden Zustand. Allerdings hätte ich persönlich viele der herrlichen Motive gern in ganzer Größe gesehen, also mit schwarzen Balken links und rechts. Nun, ist vielleicht Geschmackssache.

Nach 1945 ging es tüchtig weiter mit der Beseitigung des Alten, Im-Wege-Stehenden. Und im Grunde gilt das bis heute, wenn auch abgeschwächt, weil einfach nicht mehr so viel Altbestand vorhanden ist. WIR WAREN DAS DUNKLE HERZ DER STADT ist also keineswegs nur etwas für Heimatkundler, Historiker, Nostalgiker, sondern hochaktuell. Nach wie vor wird die „Freie und Abrissstadt Hamburg“ (Lichtwark) vom sogenannten Kaufmannsgeist regiert, jüngst mussten die denkmalgeschützten City-Höfe und das angeblich nicht mehr genügend originalgetreue Deutschland-Haus dran glauben (der Neubau sieht fast exakt wie der Bau zuvor aus, was für eine Farce!), demnächst (2023) ist das wunderbar eigenwillige Commerzbank-Gebäude fällig, und so wird es wohl immer weiter gehen.

Ob das die Stadt wirtschaftlich belebt, ist nicht gesagt. Kann der Verlust an Ästhetik, architektonischer Bedeutung oder Heimatlichkeit (ganz weicher Faktor, geb ich zu) wirklich aufgewogen werden? Die Vernichtung der Gängeviertel, des historischen Kerns der Stadt, ist jedenfalls eklatant. Hätte sich z.B. die alte Hansestadt Lübeck ähnliches erlaubt, wäre sie touristisch wie identifikatorisch heute tot. Selbst die Hamburger Nazis erkannten später, dass einige der zum Abriss freigegebenen Gebäude doch eigentlich sehr schön und bauhistorisch wertvoll waren und ließen sie stehen. Heute sind genau diese Überbleibsel Touristen-Magneten.

Hochaktuell ist WIR WAREN DAS DUNKLE HERZ DER STADT auch aufgrund der seit Jahren geführten Diskussion um die Verödung der Innenstadt. Liegt es an zu hohen Mieten, an Corona oder dem Internet, dass immer mehr Läden schließen müssen? Ja, anteilig schon. Es liegt aber auch daran, dass hier fast niemand mehr wohnt – und daher auch nichts ausgeben kann. Waren es vor Kriegsbeginn 1939 noch 120.000 City-Anwohner, sind es heute nur noch ca. 13.000. Ökonomisch ist das keine Größe, auf die man wirklich bauen kann. – Wann alles begann? 1880, mit den „Flächensanierungen“. Eigentlich könnte man die Gängeviertel, zumindest Teile davon, heute ganz gut gebrauchen…

___________________________________________________________________

BRD 2012–2022, Regie: Andreas Karmers | Buch: Mimi Ernestine Hoffmann | Kamera: Bernd Meiners, Knut Weber | Schnitt: Janne Jürgensen | Laufzeit: 350 Min.

Alle Kapitel im Überblick:

Programm 1 (85 Minuten):
1. Kapitel – Vorhang auf
2. Kapitel – Halbstarke, Radikale, Verbrecher, Spitzel, Huren, Gottesfürchtige, Antisemiten, Schöngeister, Gelichter aller Art

Progamm 2 (127 Minuten):
3. Kapitel – Experten, Expertisen
4. Kapitel – Mutter, Onkel, Großvater, Ich

Programm 3 (138 Minuten):
5. Kapitel – Revolte, Revolution
6. Kapitel – Moderne, links-rechts
7. Kapitel – Vorhang fällt

WIR WAREN DAS DUNKLE HERZ DER STADT lief im November 2022 im Hamburger Kommunalen Kino Metropolis und im Zeise Kino. Interessierte Spielstätten können sich an info@karmers.de wenden.