Wer braucht schon Filme, wenn sich dort, wo sie laufen oder laufen sollten, ein Drama epischen Ausmaßes abspielt? Die Investorenträume der Jahrtausendwende sind zerplatzt, Neues ist nicht wirklich in Sicht, die Internationalen Berliner Filmfestspiele zerfasern als Lokal-Evente über die ganze Stadt, das Herz ist verloren gegangen, der cineastische Spaß ist vorbei. Splatting-Image-Autor Peter Clasen kann es nicht fassen.
Vor drei Jahren schrieb ich an dieser Stelle noch von einer „Geisterberlinale“ und dachte, eigentlich kann es doch jetzt nur noch besser werden. Wurde es aber nicht, im Gegenteil. Die Berlinale hat keinen echten Mittelpunkt mehr, nur verschiedene Hauptstandorte und diverse Satelliten. Was im Jahre 2000, als die Berlinale aus dem alten Westen in den neuen Osten zog, noch als Zukunft gefeiert wurde, ist schon wieder Makulatur, zeigt sich als leere Hülle, moderne Ruine, Gelände ohne Idee.
Das einst weltweit beachtete Sony-Center mit dem ikonischen Zeltdach ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Wo die acht unterirdischen Kinosäle mit ihren 2276 Sitzen lagen – für die Berlinale waren sie essenziell, steht man jetzt vor einer Baustelle. Auch das oberhalb gelegene IMAX-Kino ist demontiert, und fast alle Restaurants sind verschwunden. Selbst die Konzernzentrale der Deutschen Bahn musste ihren Glasturm verlassen, wenn auch nur vorübergehend.
Neueste Hiobsbotschaft: Das bundesweit einmalige Filmhaus wird vollständig aufgelöst. Die Mietverträge gelten noch bis Ende 2027, bis dahin müssen das Arsenal-Kino (zwei Säle), die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) und die Stiftung Deutsche Kinemathek inklusive Filmmuseum und Bibliothek einen neuen Standort gefunden haben. Kultureller Ausverkauf: Alles muss raus!
Auf der anderen Seite der Postdamer Straße geht es in gleicher Weise weiter. Die Spielbank ist schon raus. Das riesige Musicaltheater, während der Filmfestspiele als Berlinale-Palast in Dienst, hat in seiner ursprünglichen Form ausgedient, weiteres Schicksal ungewiss. Das Cinemaxx-Kino existiert dankenswerterweise noch, allerdings wurden die Säle radikal umgebaut: Da die schwenkbaren Komfortsessel mehr Raum einnehmen als die Sitze zuvor, haben die Säle nur noch halb so viele Plätze. Das führt dazu, dass für manche Pressevorführungen nun fünf oder sechs Säle gebucht werden müssen statt vorher ein oder zwei. Was die Aufführmöglichkeiten für weitere Filme einschränkt und dazu geführt haben mag, dass die überaus beliebte Retrospektive keine feste Adresse mehr hat, sondern mal hier und mal da läuft.
Noch eine Straßenecke weiter: Das Einkaufscenter Potsdamer-Platz-Arkaden heißt heute „The Playce“ und harrt noch immer einer neuen Bestimmung. Die Galerien mit ihren bunten Lokalen wurden abgerissen, auch das Kellergeschoss ist fast vollständig verwaist. Die Leere zieht sich bis zur nächsten U-Bahn-Station Mendelssohn-Bartholdy-Platz. Wo früher mehrere kleine Cafés waren, ist heute rein gar nichts mehr. McDonald’s hat sich nicht wieder blicken lassen, und auch das Kugelkino (später als Disco genutzt) ist inzwischen Geschichte. Scheiben oder Zäune sind stattdessen mit Fototapeten beklebt, deren Versprechungen wie Hohn klingen: „A New Point of View for Berlin“, „Unafraid to Stand Out“, „Feel the Pulse of Progress“.
Wer auf Burger und Bowls steht, findet einen zweistöckigen Fresstempel mit über 20 schummerigen Stationen plus Lümmellandschaft im „The Playce“. Ansonsten wird es schwer, sich an dieser Ecke der Stadt zu verpflegen bzw. eine nette Sitzgelegenheit zu finden, trotz Reliables wie Maredo, Pizza Hut oder der italienischen Eisdiele. Auch das Restaurant und die Eventflächen im Cinemaxx werden nicht mehr bedient bzw. nur noch für interne Premierenfeiern reaktiviert. Die früher beliebten Food Trucks sind in diesem Jahr ausgeblieben. Und selbst die Brezelverkäufer vorm Cinemaxx wurden nicht mehr gesehen.
Anders gesagt: Wenn Food Trucks und Brezelverkäufer keine Möglichkeit mehr für Geschäfte sehen, muss die Gegend schon ziemlich tot sein.
Covid-19 hat damit übrigens nur wenig zu tun. Der neue Potsdamer Platz, einst der Nabel der Stadt, wurde von den Berlinern nie richtig angenommen, Touristen meiden ihn. Es ist eine Retortenstadt ohne echtes urbanes Leben. Und was weg ist, kommt so schnell nicht wieder. – Das ist die eine Lesart.
Die andere: Vermutlich wird‘s am Gelde liegen. Die neuen Besitzer des Areals haben Milliarden dafür bezahlt und dürften auf Kompensation drängen. Genauere Besitzverhältnisse, Mietverträge, Absprachen mit der Stadt usw. entziehen sich meiner Kenntnis, das sollen die Kollegen von Wirtschaft und Finanzen beurteilen. Ich bin nur Kinogänger und Passant und sehe: Was vor über 20 Jahren die Zukunft der Berlinale garantieren sollte, was mit dem Filmhaus der Filmkultur zu dienen gedachte und überhaupt das vormalige Grenzgebiet mit echtem Leben füllen sollte, hat sich als Illusion entpuppt. Viele Gebäude sind entmietet, zum Teil zerstört, der Potsdamer Platz als zentraler Schauplatz der Filmfestspiele dürfte ausgedient haben.
Aber wo findet die Berlinale dann noch statt? Zumal wenn wichtige Abspielstätten wie der Friedrichstadtpalast oder das Colosseum nicht mehr zur Verfügung stehen? Nun, kreuz und quer durch die ganze Stadt! Zum Beispiel in der neuen, riesigen „Verti Music Hall“ jenseits des Ostbahnhofs oder im legendären Titania Palast im tiefsten Steglitz. Wer vom einen ins andere Kino kommen will, muss erhebliche Fahrzeit einplanen. Überhaupt ist die Berlinale zu einer Reiseveranstaltung verkommen, bei der man fast mehr auf Schienen und Straßen unterwegs ist als im Kino selbst. Wahrscheinlich ist die Berlinale heute das verkehrsintensivste, stressigste Filmfestival Deutschlands.
Das war mal anders. Vor 30, 40 Jahren, als die meisten Festivalkinos noch am Kudamm lagen, konnte man, so man fleißig war, sieben bis acht Filme pro Tag sehen (und eine Fahrkarte gab’s gratis dazu!). Heute schafft man in der Regel vier, manchmal fünf. Wobei die Qualität der Auswahl nicht garantiert ist. Tatsächlich habe ich dieses Jahr so viele dumme, prätentiöse oder einfach nur belanglose Filme zu sehen gekriegt wie selten.
Wenn sie denn überhaupt laufen! So musste SONNE UND BETON bei seiner letzten Vorführung am vorletzten Festivaltag im Titania leider wegen technischer Probleme ausfallen. Normalerweise hätte ein zentraler Kinotechniker zu Hilfe eilen müssen, aber da schien niemand gekommen zu sein, vielleicht wäre die Anfahrt auch zu lang gewesen, oder es gab schon anderswo einen Engpass. Jedenfalls ist ein Film, der einfach nicht stattfindet, eines A-Festivals unwürdig.
Ähnlich unwürdig ist der Verzicht auf gedruckte Kataloge mit hinreichenden Texten zu Werk und Autor. Die 100-Seiten-Broschüre mit oft wenig anschaulichen Kurzvorstellungen reicht da einfach nicht. Und beim jährlichen Journalisten-Goodie, diesmal eine Plastik-Gürteltasche in Knatsch-Orange, verschlug es mir glatt die Sprache. An den zehn Berlinale-Tagen habe ich niemanden gesehen, der das Ding auch getragen hätte.
Wie gesagt: Wer braucht schon Filme, wenn sich direkt vor unseren Augen solch ein Drama abspielt?