Asia lebt!

Hunde im Himmel, Horror in Beton, trans Frauen in Fake-Love, Virenschleudern im Sturzflug u.v.m.

Es gibt was zu feiern! 25 Jahre Far East Film! Jedenfalls nach offizieller Zählung. Tatsächlich war die legendäre Hongkong-Retro 1998 (also ein Jahr nach dem Handover der Kronkolonie an China) der Startschuss zum Festival ab 1999. Wer konnte damals schon ahnen, dass sich das italienische Lokal-Event zum größten asiatischen Filmfestival außerhalb Asiens entwickeln würde?! Dieses Jahr mit 78 Filmen aus 14 Ländern, darunter 9 Weltpremieren. Fast alle Superstars waren schon da, darunter Jackie Chan, Stephen Chow, Anthony Wong. Diesmal wurde die japanische Kinodiva Baisho Chieko für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Wegen der unerfreulichen Streiks von Fluglinien und Bahn konnte ich dieses Jahr leider erst später ins Programm einsteigen. Keine Ahnung, was mir da alles entgangen ist. Trotzdem ist die Ausbeute groß und bietet die gewohnte Mischung aus Kommerz, Kunst und Krempel.

Der übliche Genreplunder

Ich beginne mit jenen schier unvermeidlichen Plotten, denen wir gern rasch entkommen würden, wären die Sitzreihen im als Kino dienenden Opernhaus nur nicht so eng! Zum Beispiel der 1645 spielende Kostümkrimi THE NIGHT OWL (Südkorea 2022; Regie: An Tae-jin), mit Akupunkturnadeln statt Schwertern. – Oder die grelle Mediensatire KILLING ROMANCE (Südkorea 2023; R: Lee Won-suk), für mich die größte Herausforderung des Festivals, über eine gefloppte Filmdiva, ihren übergriffig-anmaßenden Millionärsgatten und ihre dummen Fans… Trotz hohem Potenzial bleibt der Möchtegern-Musical-Kultfilm hohl und witzlos.

Ebenfalls im Angebot: das gespreizte Seelenwanderungs-Dramolett PHASES OF THE MOON (Japan 2022; R: Hiroki Ryuichi). Der Plot: Ruri ist ein seltsames Mädchen, sie fährt schon mit 7 Jahren allein nach Tokio – und möchte nicht die Fehler wiederholen, die sie im vormaligen Leben beging. Ihr Vater sperrt sich vehement gegen die Idee der Reinkarnation, ist am Ende aber von diversen Schicksalsschlägen ähnlich windelweich geklopft, wie die Zuschauer von einer gravitätischen, unoriginellen Regie gelähmt sind.

Große Gefühle

Den japanischen Hunde-Klassiker HACHIKO von 1987 kennen wir spätestens durch das Hollywood-Remake von 2009 mit Richard Gere. Doch was die Chinesen jetzt daraus gemacht haben, sprengt den bisher putzigen Rahmen. HACHIKO (VR China 2023; R: Xu Ang) behandelt nicht nur die innige Liebe des Menschen zum Hund und die ewige Treue des Hunds zum Menschen, sondern erzählt en passant vom Wandel der chinesichen Familie, Gesellschaft und Stadt (hier Chongqin). So wird die kleine Geschichte zum wirklich großen Film. Nur die Sache mit dem Hundehimmel hätte man besser lassen sollen.

Der sicherlich ergreifendste Film des Festivals war das Bruderdrama ABANG ADIK (Malaysia 2023; R: Jin Ong): Der rechtschaffene, stumme Abang hat seinen Wahlbruder, den leichtlebigen Adi, bisher immer beschützt. Doch als Adi zum Mörder wird, muss Abang eine schwere Entscheidung treffen… Man verzeihe mir, wenn ich das einen heterosexuellen Männerliebesfilm nenne, aber genau so kommt der Film rüber und rührt wahrhaft zu Tränen. Regisseur Jin Ong gewann damit zu Recht den Hauptpreis des Festivals.

Horror

Ein harter Job, doch eine muss ihn machen: Content Managerin Lyra löscht brutale Uploads für eine Social Media Site. Eine Kollegin ist nervlich schon so zerrüttet, dass sie in den Tod springt… Der halbgare Minigrusler DELETER (Philippinen 2022; R: Mikhail Red) traut seinem starken Thema leider nicht, sondern mixt #metoo und Geisterhorror mit hinein. Schade. – Auch nicht doll: THE OTHER CHILD (Südkorea 2022; R: Kim Jin-young). Vier Kinder, eines stirbt, da adoptieren der Reverend und seine Frau ein Ersatzkind. Der Kleine ist fast blind, doch hellsichtig – und erfährt vom Toten die wahre Geschichte seines Ablebens… Familiendrama + christliche Hysterie + Okkulthorror = trotz gewissem Anspruch doch nur öde Genrekonvention.

Wenigstens 1 Horrorhighlight gab’s dann doch: SATAN’S SLAVES 2 – COMMUNION (Indonesien 2022; R: Joko Anwar), ein eigenartiges, faszinierendes Werk. Dort, wo 1955 ein Friedhof war, steht 1989 ein 14-stöckiger Sozialbau. Damals wie heute kommt es zu gruseligen Vorfällen, u.a. sorgt ein Lift für frische Leichen. In einer Sturmnacht stromern Kinder durch stockdustere Flure und Apartments – bis hin zur Quelle allen Übels… Der fabulierfreudige, überbordende Film führt nicht jede Idee zuende, aber die Atmo ist schön schaurig, und unter der knackigen Genrekruste steckt eine gemeine Politsatire über die Verführung gewöhnlicher Bürger zum Bösen. Als apokalyptischer Beton-Grusler muss COMMUNION in einer Reihe mit DARK WATER (2002), DREDD (2012), CITADEL (2012) oder HIGH-RISE (2015) genannt werden.

Mädels, ganz speziell

Die Teenie-Lovestory YOU & ME & ME (Thailand 2023; R: Wanwaew und Waewwan Hongvivatana) über Zwillingsmädchen, die mit der ersten Liebe spielen, sollte laut Selbstauskunft seiner Zwillings-Autorinnen anders sein als DAS DOPPELTE LOTTCHEN und Co. Was wir lernen durften, war, dass (eineiige) Twins sehr wohl unterschiedlich seien, ihre „Twinship“ aber deckungsgleich. Na schön. Was das aber mit dem gefoppten Lover anstellt, war dann letztlich wurscht. Ist halt Künstlerpech, wenn’s die Herzensdame zweimal gibt.

Noch schlimmer: WHERE IS THE LIE? (Philippinen 2023; R: Quark Henares), ein zeitgeistiger Film aus der sogenannten LGBTIQA-Community. Trans Frau Zen will sich neu verlieben, gerät auf „Sinder“ aber in einen Fall von Catfishing. Knackboy Tom heißt in Wirklichkeit Dennis und spielt den Lover nur, weil Videografin Bonnie ihm eine Karriere als Model versprochen hat… Am Ende sieht sich jede/r als Opfer, selbst Bonnie, die auf die böse Cancel Culture schimpft. Erzählt wird die krude Rachephantasie aus Perspektive der drei Protagonisten. RASHOMON ist trotzdem gaaanz weit weg.

Watanabe Hirobumi ist Kult!

Er war der heimliche Star der Streaming-only-Ausgabe des Far East Film Festivals im Covid-Jahr 2020, Watanabe Hirobumi. Seine eigenen Regiearbeiten sind minimalistische Kunstwerke voll trockenem Humor. Kollegen buchen ihn aber auch gern als Darsteller, hier z.B. in YOUR LOVELY SMILE (Japan 2022; R: Lim Kah Wai), worin sich Watanabe paradoxerweise selbst spielt. Der japanische Independent-Regisseur tingelt von Okinawa aus durchs ganze Land bis Hokkaido, um seine Filme persönlich ins Kino zu bringen. Leider ist Watanabe zwar „weltberühmt“, aber im eigenen Lande wenig bekannt, und so hält sich das Interesse des Publikums in Grenzen… Das tragikomische Roadmovie über die Mühen des Filme- und des Kinomachens ist allen Independent-Regisseuren und Arthouse-Kino-Betreibern gewidmet. Wäre der Film von Watanabe selbst, könnte es sein ACHTEINHALB sein.

Wieder mit, diesmal aber auch von Watanabe selbst war dann TECHNO BROTHERS (Japan 2023; R: Watanabe Hirobumi), ein tragikomisches Roadmovie und waschechter Musikfilm. Drei arme Musiker wollen nach Tokio, um groß rauszukommen. Doch ihre egoistische Managerin gönnt ihnen rein gar nichts… Das Groteskdrama durch die japanische Provinz mit von Kraftwerk inspirierten Nummern ist vielleicht nix für gewöhnliche IMDb-Adepten, aber im Opernhaus von Udine hat‘s echt gerockt.

Sex oder auch nicht

Unterleibsgeschichten laufen im katholischen Udine wie geschmiert, z.B. YOU’VE GOT A FRIEND (Japan 2022; R: Hiroki Ryuichi), das Drama eines extremen Masochisten zwischen bettlägeriger Mutter, feixenden Bürokollegen und seinen beiden Lieblings-Dominas… Leider kaum mehr als ein müder Indie-Versuch, etwas Allgemeingültiges über Obsession, Perversion, Bigotterie und Befreiung zu erzählen. Am Ende müht sich der Herr, wieder Gefallen an der Missionarsstellung zu finden…

Bei EGOIST (Japan 2023; R: Matsunaga Daishi) muss ich des Zusammenhangs wegen etwas spoilern. Ein kultivierter, reicher Homosexueller liebt seinen jungen, armen Personal Trainer. Die wunderbare Beziehung findet ein jähes Ende – und eine unerwartete Fortführung auf leicht verschobener Ebene: Der Herr kümmert sich nun liebevoll um die Mutter seines Ex. Sie findet einen neuen Sohn, er die Mutter wieder, die er einst so früh verlor… Zuneigung, Verantwortung, Erfüllung: Es kommt darauf an, jemanden zu lieben, egal ob Mann oder Frau (Zitat). Berührend, auch wenn sich die intime, fast märchenhafte Geschichte mit ihrer Gestaltung als „authentisches“ Dokudrama beißt.

Epic!

Im Westen schon lange aus der Mode, in Asien immer wieder Thema: das Historienepos. Nationalstolz spielt eine Rolle, doch ohne plumpes Pathos wie einst, sondern kritisch-modern und voller Brüche. Erstes Beispiel: THE LEGEND & BUTTERFLY (Japan 2023; R: Otomo Keishi), ein mächtiges Dreistundenwerk à la Kurosawa Akira über den Herrscher Nobunaga, der im 16. Jahrhundert Japan vereinte – angestachelt von seiner klugen, ehrgeizigen Frau Nohime. Die ihn eigentlich ermorden sollte! Der „Idiot“ und die „Viper“ brauchen drei Jahrzehnte, um sich endlich zu respektieren und zu lieben… Es ist die feministische Perspektive, die den Film so aufregend macht. Wunderbare Kostüme und große Schlachten gibt’s gratis dazu.

Beispiel zwei: FULL RIVER RED aka FULL RED RIVER (VR China 2023; R: Zhang Yimou). Das Kammerspiel in einer dunklen Festung des Jahres 1146 erzählt von der Genese eines Gedichtes, das heute als nationaler Schatz gilt. Das hätte staatstragender Politkitsch werden können. Stattdessen erleben wir eine blutige Groteske am Rande des Slapstick. Wenn Herrscher und Rebellen über einen Brief mit höchst geheimer Botschaft streiten, wird am laufenden Meter erpresst, getäuscht, gefoltert, gemordet oder Suizid begangen. Es gibt wohl keinen anderen Film, in dem der Dolch so locker sitzt wie hier… Meisterregisseur Zhang Yimou erweist sich abermals auf der Höhe seiner Kunst: Seine Inszenierung ist flink, extrem dicht und immer auf den Punkt. Selbst sein Videogreeting dauerte höchstens 10 Sekunden!

Hello to Hongkong!

Das (politische) Schicksal der Stadt macht einen immer wieder traurig. Viele neue Filme erzählen nach wie vor vom Verlust der Autonomie. Auch wenn man manchmal etwas um die Ecke denken muss, um es zu sehen. A LIGHT NEVER GOES OUT (Hongkong 2022; R: Anastasia TSANG) – schon der Titel ist ein Bekenntnis! – ist eine Ode an die Kunst der Neonwerbung-Glasbläserei und eine sentimentale Rückschau auf das funkelbunte Hongkong von gestern: Wo heute kalte Leuchtdioden blitzen, glühte einst warmes Neonlicht – ehe Peking es verbot. Bis eine Glasbläser-Witwe und der Azubi sich widersetzen – wenn auch nur für eine Nacht. Eine poetische Rebellion im privaten Kleinen.

Wild und krass dagegen der Horrorthriller MAD FATE (Hongkong 2023; R: Soi Cheang). Ein Hellseher versucht einen Streetpunk zu retten, der einem Serienkiller nachzueifern droht – und seine eigene verzweifelte Seele ebenfalls… Über Hongkong hängen dichte Regenwolken – und blankes Verderben. Die große Frage lautet: Lässt sich das Schicksal abwenden? Der Hellseher meint, ja. Doch er täuscht sich. „Rettung“ gibt es nur in Wahnsinn und Tod, bestenfalls in der Rente, oder in blanker Illusion: Der Letzte, der hier übrig bleibt, pfeift ein fröhlich Lied. Tatsächlich ist sein River-Kwai-Marsch (aus dem Kriegsklassiker DIE BRÜCKE AM KWAI) ein Chor der Gefangenen… Nicht zuletzt, weil einer der Produzenten Johnnie To heißt, darf man das ohne Frage politisch sehen.

Letztes Filmbeispiel aus der traumatisierten Stadt – abermals mit einem Titel, der uns stutzig machen sollte. VITAL SIGN (Hongkong 2023; R: Cheuk Wan-chi) – Lebenszeichen – ist das Drama zweier Sanitäter in Hongkong. Doch um den Job geht’s eigentlich nur nebenbei. Der verwitwete Ältere will mit seiner kleinen Tochter nach Kanada auswandern, doch das unmündige Kind belastet sein Sozialkonto mit einem fatalen Streich, und der Jüngere weigert sich, mit seiner Freundin eine Familie zu gründen… Eine „unauffällige“ Randszene bringt das Thema auf den Punkt: Vater und Tochter entdecken beim Spazierengehen eine Schnecke, deren Haus zerbrochen ist – die Schnecke muss nun bald sterben… Auch Hongkong ist „kaputt“ und keine Heimat mehr – es folgt ein Abschied unter Tränen.

HELLO TO HONGKONG! heißt auch ein kurzer Imagefilm, der in Udine vor allen Hongkong-Filmen lief und in ganzer Länge bei Youtube aufgerufen werden kann. Da tanzen Hongkong-Filmstars durch die bunte Stadt. Doch ob sich damit Touristen gewinnen lassen? Der Verlust der Freiheit ist nicht sexy.

Thriller + Neo-Noir

Zurück zum straighten Entertainment ohne signifikante Sub-Ebene. In EMERGENCY DECLARATION (Südkorea 2022; R: Han Jae-rim) wird ein Passagierflug zum Todestrip, als ein irrer Mikrobiologe einen hoch ansteckenden Virus freisetzt… Wohl einer der aufregendsten Luftfahrt-Katastrophen-Filme jüngster Zeit – auch aufgrund seines suggestiven Soundtracks, der über weite Strecken nur aus gespenstischen Geräuschen besteht.

Im stilbewussten, schwerblütigen Unterweltdrama THE WILD (Südkorea 2023; R: Kim Bong-han) wollen Edelzwirn-Gangster in Seoul das Geschäft eines Drogenkuriers mit Gewalt übernehmen, der die Ware aus Nordkorea übers Meer herbeischafft. Ein entlassener Sträfling, der als Boxer einen Gegner totprügelte und als Banden-Manager eine untergebene Hure liebt, gerät zwischen die Fronten… Das Noir-Hafte gerinnt zum Klischee: Der Film spielt fast nur nachts, beinah jedes Bild ist dunkelfarbig verschattet, selbst in Innenräumen herrscht beständiger „Nebel“. Elegie in Anämie.

Glorreicher Schlusspunkt: THE ABANDONED (Taiwan 2022; R: Tseng Ying-ting). Eine suizidgefährdete Polizistin in Taipeh und ihre junge Assistentin ermitteln im Mordfall einer illegalen Einwanderin… Geschliffener, höllisch spannender Neo-Noir-Thriller über Migration, Ausbeutung und darüber, wie Verstorbene mitunter die Lebenden retten: Die eine Tote gibt der Frau einen Sinn zu leben, der andere Tote gibt ihr die Kraft, nicht sterben zu müssen… Hoffentlich sehen wir noch viele weitere Filme aus einem freien Taiwan.

Tja, das war’s dann auch. Tschüß Udine, und dann bis 2024!

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