Bei Oma ist es nicht immer am schönsten.

Wenn man an Genrefilme aus nordischen Ländern denkt, kommen zunächst dänische und schwedische Produktionen in den Sinn, isländische Filme indes eher selten. Nun ist NATATORIUM eine finnisch-isländische Koproduktion – und arbeitet mehr mit den Versatzstücken des Horrorfilms als im klassischen Sinne selbst einer zu sein, aber das hat der Film mit vielen Produktionen seiner skandinavischen Nachbarn und dem letzten Genrebeitrag Islands -Jóhannssons LAMB – gemeinsam.

Bei einem „Natatorium“ handelt es sich um ein Schwimmbecken, das meist im Inneren eines Hauses anzutreffen ist. Etymologisch ein Begriff aus der römischen Antike, verweist der Titel von Steffansdottirs erstem Langfilm nicht nur auf einen zentralen Handlungsort, sondern auch auf uralte Wurzeln eines nicht näher erklärten Rituals, das für das Zusammenleben der isländischen Familie im Film über Generationen hinweg eine prägende Bedeutung hat.

Für ein Vortanzen in der Stadt entschließt sich die junge Lilja, im Haus ihrer Großeltern zu wohnen. Die Dominanz ihrer Oma und deren emotional unbalanciertes Verhalten ignorierend, wird sie bald zur Beobachterin des Alltags in dem modern eingerichteten Haus, dessen Keller ein mysteriöses Schwimmbad beherbergt, das so gar nicht zum zeitgenössischen Interieur des Anwesens passen will. Das gilt auch für das karg eingerichtete, muffige Zimmer ihres Onkels, der seit Jahren mit einer mysteriösen Krankheit darniederliegt und den Raum schon seit längerer Zeit nicht mehr verlassen hat. Auch ein Altar im Wohnbereich gibt Rätsel auf.

Während Lilja bei nächtlichen Erkundungen Zeugin merkwürdiger Aktivitäten wird, nährt sich immer mehr ihr Verdacht, dass der Zustand des jungen Mannes mit der Betreuung durch ihre Oma zusammenhängt. Die junge Frau fühlt sich immer mehr zu ihrem Onkel hingezogen, und je inniger die Beziehung, desto stärker der Gedanke, dass der tägliche verhängnisvolle Trott unterbrochen werden muss.

Als sich die Bewerbung als erfolgreich erweist, will Lilja ihren Aufenthalt verlängern – nicht ohne den Protest ihrer zunehmend beunruhigten Tante Vanja. Bei der Feier zur Zusage, zu der die ganze Familie nochmal im Haus zusammenkommt, brechen sich lang unterdrückte Spannungen Bahn. Als das ganze Ausmaß an Psychopathologie zu Tage tritt, kommt es zu einem tragischen Zwischenfall.

Atmosphärisch dicht und stilistisch gekonnt führt Regisseurin Stefánsdottir in eine hermetisch abgeschlossene Familienwelt, die mehr als ein Geheimnis bereithält. Die Kamera Kerttu Hakkarainens verlässt die Enge der Behausung fast nie und tastet sich behutsam zu Jacob Groths stimmungsvoller Cellomusik durch das grandios in Düsternis und fließendes Blau getauchte Interieur; auch visuell durchzieht die Wasserthematik den gesamten Film – ist Warnung und narratives Orakel zugleich.

Obwohl Steffansdottir mit den Motiven des Horrorfilms spielt, bleibt hier die das Gemäuer durchziehende Bedrohung irdisch und offenbart immer mehr die Traumata einer Familie, deren Mitglieder Heilung in der Verdrängung suchen. Doch je mehr die Protagonistin als Repräsentantin von Normalität hervortritt, desto mehr wird das Abnormale offensichtlich.

Man fragt sich recht früh, wie naiv die junge Frau eigentlich sein kann, um nicht schon nach der ersten Nacht Reißaus zu nehmen. Und spätestens beim Familientreffen ergibt sich durch die zur Schau gestellte Passivität eine Nähe zu Tafdrups SPEAK NO EVIL – allerdings deutlich weniger drastisch und ostentativ, sondern eher indirekt: Man bleibt im Kreis der Familie an der harmlosen Oberfläche und ignoriert die offensichtliche Bedrohung, die scheinbar bei allen Mitgliedern in der Vergangenheit bereits Spuren hinterlassen hat. Es kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Bis es schließlich zu spät ist.

NATATORIUM wurde als Weltpremiere auf dem diesjährigen Filmfestival von Rotterdam gezeigt, und liefert eines von vielen Beispielen für die Bedeutung von Festivals für kleine Produktionen, die sonst komplett unter dem Wust US-amerikanischer Produktionen verschwinden würden. In seiner Erzählweise langsam und besonders zum Ende hin überraschend unspektakulär – die ganze Handlung bewegt sich auch musikalisch auf etwas zu, das dann nicht so kommt wie erwartet – erzeugt der Film eine unangenehme Atmosphäre herannahenden Unheils. Wie viele Produktionen, bei denen mysteriöse Hinweise im Verlauf des Films eine derartig hohe, für jeden Zuschauer subjektive Erwartungshaltung aufbauen, dass die Auflösung am Ende nur enttäuschen kann, läuft auch in NATATORIUM nicht alles rund. Vieles bleibt im Unklaren, gerade entstehende Handlungsstränge werden kommentarlos wieder fallengelassen. Das ist manchmal frustrierend. Dennoch ist hier der Weg das Ziel – und dieser wurde mehr als gelungen visualisiert. Man darf auf weitere Werke der Regisseurin gespannt sein.

Natatorium
Island/Finnland 2024
Regie & Drehbuch: Helena Stefánsdottir
Kamera: Kerttu Hakkarainen
Musik: Jacob Groth
Darsteller: Ilmur María Arnarsdóttir, Elin Petersdottir, Stefanía Berndsen, Jónas Alfreð Birkisson, Valur Freyr Einarsson, Arnar Dan Kristjánsson u.a.
Laufzeit: 105 min.

Fotos: ©
International Film Festival Rotterdam / LevelK